Die Stille und das Gespräch mit dem Wein

meditative Abendstille

Heute erleben wir Stille nur noch selten. Am Arbeitsplatz muss man viel mit den Kollegen kommunizieren, Telefonanrufe beantworten, Dinge zwischendurch erledigen und zu guter Letzt noch die eigentliche Arbeit bewältigen. Zuhause ist es auch nicht besser: nach dem abendlichen Heimfahrtstress durch verstopfte Straßen, zuhause angekommen, plärren vielleicht die Kinder oder der Hund erfordert Aufmerksamkeit und schließlich möchte der Partner gerne seine Tagesprobleme diskutieren. Wenn es später dann eigentlich ruhig werden könnte dröhnt der Fernseher die Stille zu. Dabei wäre es nur erforderlich einen kleinen Knopf  zu bedienen um Ruhe zu haben, aber diese Bewegung schaffen viele Menschen nicht mehr aktiv auszuführen, denn sie wollen, oder können ohne die gewohnte Geräuschkulisse den Abend nicht verbringen, sie würden sich einsam fühlen.

Es gab Zeiten in denen es völlig normal war, dass zu bestimmten Tages- bzw. Nachtzeiten Ruhe herrschte. Selbst in der Stadt hat nur gelegentlich einmal ein zwitschernder Vogel , das Heulen des Sturms oder ein Gewitter die Stille unterbrochen, dies waren für die Bewohner dann besondere akustische Ausnahmemomente. Heute sind Hektik, Lärm und Krach der Normalzustand und das Verwunderliche daran ist, dass es den betroffenen Bürgern zum großen Teil gar nicht ins Bewusstsein dringt. Es ist sogar so, dass viele die Stille überhaupt nicht mehr „ertragen“ könnten, denn die audio-visuelle Alltagsbelastung wird als ein probates Mittel der Ablenkung gesehen. Kämen die Menschen in der Stille tatsächlich zum Nachdenken würden sie vielleicht erkennen, dass sie nicht wirklich glücklich sind.

Wir assoziieren Stille häufig mit Einsamkeit, wobei dieser Begriff mehreres bedeuten kann: einerseits „Alleinesein“, andererseits „Verlassenheit“. Es scheint zunächst als seien diese beiden Zustände der Einsamkeit Synonyme, man kann aber sehr wohl alleine ohne verlassen zu sein und auch verlassen ohne alleine zu sein. Bewohner einer großen Mietanlage sind definitionsgemäß nicht alleine und trotzdem können sie sich sehr verlassen fühlen. Dagegen kann man sich Menschen vorstellen, die in der Einsamkeit leben und sich überhaupt nicht verlassen fühlen sondern sehr glücklich sind. Es ist eine Banalität festzustellen, dass in der modernen Massengesellschaft die Einsamkeit der Menschen zum soziologischen Problem geworden ist.

Wir seien nicht zum Einzelgänger geboren schreiben die Fachleute der Psychologie apodiktisch in ihren Lehrbüchern. Dem möchte ich vehement widersprechen wobei Sigmund Freud mein Gewährsmann ist. Der Begründer der Psycholanalyse schreibt in seinem Essay „Das Unbehagen in der Kultur“ bei der Diskussion von Methoden zur Vermeidung von Unlust: „Gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen ist der nächstliegende Schutz gegen das Leid, das einem aus menschlichen Beziehungen erwachsen kann. Man versteht: das Glück, das man auf diesem Weg erreichen kann, ist das der Ruhe.“ (1). Die Vermeidung von Unlust bedeutet nichts anderes als der Wunsch nach dem „Lustprinzip“ zu leben. Wenn man diese Sätze Freuds ernst nimmt, kann „gewollte Vereinsamung“  als Hinwendung zum Hedonismus und zur Selbstverwirklichung gedeutet werden. So kann man „das Glück“, nämlich „die Ruhe“ erreichen. Hier kommen wir dem Kern etwas näher: Stille ist ein höchst subjektiver Zustand und wird ausschließlich über die eigene Wahrnehmung, bzw. Empfindung definiert. Psychologen und Soziologen betonen immer wieder, dass wir Menschen soziale Wesen seien, die in Gruppen zusammenleben und Kontakte pflegen müssten. Sobald ein Individuum an der Erfüllung dieser Grundbedürfnisse für längere Zeit  gehindert wird, verändert es sich angeblich auch psychisch, der Mensch wird depressiv und ängstlich, so heißt es. Das muss man unter dem Aspekt der „gewollten Vereinsamung“ aber ernsthaft hinterfragen!

Im gleichen Essay (Das Unbehagen in der Kultur) geht Freund noch auf andere Mechanismen zur Vermeidung von Unlust ein und hebt besonders die Drogen hervor; er schreibt: „…aber es ist Tatsache, dass es körperfremde Stoffe gibt, deren Anwesenheit in Blut und Geweben uns unmittelbare Lustempfindungen schafft, aber auch die Bedingungen unseres Empfindungslebens so verändert, dass wir zur Aufnahme von Unlustregungen untauglich werden. Beide Wirkungen erfolgen nicht nur gleichzeitig, sie scheinen auch innig miteinander verknüpft.“ Man benötigt kein Studium der Pharmakologie um zu erkennen, dass Freud die Volksdroge Nr. 1, den Alkohol, im Sinn hatte. Nachdem er die „Leistung der Rauschmittel im Kampf um das Glück und zur Fernhaltung des Elends“ ausgiebig diskutiert hat, geht er, seine ärztliche Pflicht erfüllend, auf deren Gefahren und gesundheitliche Schädlichkeit ein. Wenn man mit diesen Gedanken im Hinterkopf, die gewollte Vereinsamung und den Alkohol in Form von Wein zusammenbingt wird ein anderes Mysterium im Leben eines Weinfreundes offenbar: die Möglichkeit mit dem Wein zu sprechen. Um dieses Zwiegespräch angemessen führen zu können benötigt man Stille, die gleiche Stille, die man auch für den wirklichen Genuss eines Kunstwerks benötigt. Wo finden wir sie noch?

(1) Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur (II)“ in Fragen der Gesellschaft – Ursprünge der Religion, Fischer Taschenbuch Verlag, 2000

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit meiner Texte habe ich, traditionsgemäß, durchgehend die männliche Form gewählt. Die Formulierungen beziehen sich in aller Regel jedoch auf Angehörige aller Geschlechter, die ich durch mein bewusst gewähltes Vorgehen in keiner Weise diskriminieren möchte!

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