Die Leidenschaft für die Lust

Bei Oscar Wilde (1854 – 1900) dem großen irischen Lyriker, Dramatiker und Bühnenautor habe ich eine Aussage gefunden, deren Inhalt mir sehr einleuchtend scheint: „Die Leidenschaft für die Lust ist das Geheimnis der Junggebliebenen.“ Als ich diese Zeile las erinnerte ich mich sofort wieder an meine Begeisterung in Studentenzeiten für die Schriften Sigmund Freuds (1856 -1939). In dessen faszinierendem Buch „Das Unbehagen in der Kultur“ (veröffentlicht 1930) stand zu lesen, dass ausschliesslich das Lustprinzip den Lebenszweck bestimmt. Hatte Wilde diese Erkenntnis schon Jahrzehnte vorher? Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hat das „Lustprinzip“ als Antipoden des „Realitätsprinzips“ gesehen und gleichzeitig damit die psychische Regelung der sogenannten „Primärvorgänge“ definiert: alles was wir als Bilder oder Empfindungen direkt wahrnehmen und was in uns das Bedürfnis nach Befriedigung weckt, gehört in die vom Lustprinzip gesteuerten unbewussten Primärvorgänge. Die Bedingung dabei ist, dass wir die tatsächliche Situation und die Realisierungsmöglichkeiten unserer Wünsche überhaupt nicht analysieren. Gelegentlich scheint es sogar, dass das wirklich Wünschenswerte – oder zumindest der Kompromiss – die Vermeidung von „Unlust“ ist. Das Lustprinzip setzt Energien frei, die in kontrollierter Form in der gesamten Kunst, im emotionalen Verständnis der Menschen untereinander und schließlich sogar auch im religiösen Erleben dominieren.

Zu den grundlegenden Bedürfniszuständen des Menschen, die in allen Zeiten nach Befriedigung gestrebt haben, gehören das Essen, das Trinken und die Liebe. Immer hat der Mensch auch den Wunsch gehabt, sich nach der Empfindung von Freude und Lust mitzuteilen und damit dem persönlichen Erlebnis zu huldigen. So kam es, dass er darüber schrieb, Bilder malte, Musik komponierte, Skulpturen anfertigte, Gebäude schuf, feine Mahlzeiten zubereitete und herrliche Getränke entstehen ließ. Auf diese Art sind großartige Dokumente der Kulturgeschichte entstanden, Eines davon ist das satirische Meisterwerk „Encomium moriae” (Lob der Torheit) des Erasmus von Rotterdam (1466? – 1536), einem humanistischen Philosophen, Schriftsteller und Theologen. 1510 schrieb er u. a.: „Ich habe die Quelle der ersten und vornehmsten Freuden des Lebens aufgedeckt. Ja, es fehlt an einigen nicht, die man eben so weibisch nicht nennen kann; es sind alte, durstige Brüder, welche höchste Wollust beim Weine finden.”

Das „Lob der Torheit” wurde von Erasmus auf lateinisch geschrieben, und die erste von ihm autorisierte Übersetzung ins Deutsche wurde noch zu seinen Lebzeiten angefertigt. Schon in der damaligen Sprache, dem Frühneuhochdeutsch, bezeichnete das Wort „Wollust” etwas moralisch Anrüchiges im Sinne von sexueller Lust, Ausschweifung und Laster. Diese Bedeutung hat der Begriff bis heute behalten, obwohl dies nicht immer so war. Die Wortschöpfung stammt nämlich aus der Verbindung des Adjektivs „wohl“ im Sinne von „gut“ und dem Substantiv „Lust“. Die Wortschöpfung Wollust ist vergleichbar mit Worten wie Wohlstand, Wohltat oder Wohlfahrt. Wollust war demnach so etwas wie eine Lust deren Befriedigung wohl tat.

Erasmus war ein Satiriker, dessen zarte Ironie sich in vielen Schriftstücken Luft verschaffte. Im Falle seiner Einschätzung der durstigen Brüder, die beim Weingenuss höchste Wollust empfinden, steckt auch eine subtile Ironie, denn aus seiner Textformulierung wird deutlich, dass es sich beim Weingenuss, durchaus im Sinne des späteren Sigmund Freuds, um eine Ersatzbefriedigung handelt. Der Renaissance-Mensch Erasmus war nicht nur ein Vorläufer der europäischen Aufklärung und der Reformation sondern hatte auch eine Vorahnung von der Psycholanalyse.

Die Lust hat in unserer Kultur einen hohen Stellenwert, dem hat Freud durch ihre Erhebung zu einem „Lebensprinzip“ Rechnung getragen. Sie ist immer irgendwie mit der Befriedigung eines Bedürfnisses verbunden, bleibt aber letztlich zweckfrei. Wir essen meist nicht um bewusst dem Körper Kalorien zuzuführen sondern aus einem zu erwartenden geschmacksvermittelten Glücksgefühl. Ebenso selten beinhaltet die Liebe meist einen direkten Kinderwunsch sondern begnügt sich mit dem Lustgefühl der gemeinsamen Begegnung. Auch der Wein wird nicht als Durstlöscher getrunken, sondern erzeugt sinnliches Wohlbefinden. Nicht immer sind es körperliche Empfindungen, die zur Lust führen, auch seelisch-ästhetische Vorgänge können ohne einen direkt erkennbaren Zweck große Lust erzeugen, jeder von uns kennt derartig lustvolle Bilder, Musikstücke oder Gedichte.

Der Begriff Lust ist eigentlich doppeldeutig: er bezeichnet sowohl den Wunsch als auch dessen Erfüllung. Sowohl körperliche als auch seelische Lust erzeugt immer ein physisches Empfinden. Lust könnte man auch die „sinnlichste“ aller Erfahrungen nennen. So wollte es Oscar Wilde sicher auch verstanden wissen: Die Leidenschaft für Sinnlichkeit ist das Geheimnis der Junggebliebenen. Die Vermeidung von „Unlust“ alleine reicht da nicht. Verbindet man die Aussagen Wildes logisch mit denen des Erasmus von Rotterdam wird klar: Mit Wein kann man jung bleiben (übrigens mittlerweile eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache!).

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