In der Geschichte gab es viele Gelegenheiten bei denen es zu einer Verbrüderung von Künstlern mit der Arbeiterklasse kam. So geschehen z.B. im Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dort war der Absinth, eine Spirituose aus dem Schweizer Kanton Neuchâtel, zum Kultgetränk avanciert. Die sog. „Bohème“, heute eine verehrte und gefeierte Randgruppe der damaligen Gesellschaft, hatte sich dem Genuss der „grünen Fee“, wie der Absinth liebevoll genannt wurde, hingegeben. Namen wie van Gogh, Lautrec, Baudelaire, Hugo, Picasso u.v.a. sind eng mit dieser Subkultur verbunden. Aber der Absinth war auch der Liebling der einkommensschwachen Arbeiter, denn ein Rausch war deutlich billiger mit ihm zu erreichen als mit teurem Wein, Die explosionsartige Entwicklung der 1737 im schweizerischen Val-de-Travers entwickelten Rezeptur bewirkte, dass sich in der geographischen Nachbarschaft westlich vom Neuenburger See, einschließlich grenznaher Orte in Frankreich, ein regelrechter Absinth-Manufakturen-Boom ausbrach. Vorreiter war ein gewisser Henri Louis Pernod, der, um der Zahlung von Zoll in Frankreich zu entgehen seine Schweizer Destille 1805 in den grenznahen, französischen Nachbarort Pontarlier verlegte.
Alkoholische Anis-Zubereitungen sind seit der Verfügbarkeit von einfachen Destillationsverfahren im 15. Jahrhundert um das ganze Mittelmeer verbreitet: Ouzo, Raki, Sambuca, Masticha, Chinchon und Pastis sind nur einige wenige Namen dafür. Man bezeichnet diese Anis-Spirituosen auch mit dem französischen Oberbegriff „Anisées“. Der Absinth wurde einst in den Apotheken des Schweizer Jura als Hausmittel bei Magenverstimmungen verkauft. Neben dem Anis enthielt er noch Fenchel, Wermut- und andere Kräuter, zusammengestellt nach einem, meist geheimen, Familienrezept. Die Gewürz- und Heilpflanze Anis wird heute aber in vielen Regionen mit gemäßigtem Klima angebaut. Ihr Name leitet sich vom griechischen Wort für Dill (Anithon) ab, mit dem Anis oft verwechselt wurde. Sowohl Anis als auch Dill sind, botanisch gesehen, sog. Doldenblütler.
Der wirkliche Grund für den Siegeszug des Absinth im Frankreich des 19. Jahrhunderts ist, wie bei Moden so häufig, objektiv sehr schwer auszumachen. War es der geheimnisvolle „Louche-Effekt“, die magische, milchige Trübung nach Zugabe von Wasser oder Eis? Oder einfach der verhältnismäßig niedrige Preis, oder gar die leuchtend grüne Farbe? Absinth wurde an der Wende zum 20. Jahrhundert zum europäischen Kulturgut erhoben und nicht nur Charles Baudelaire und Victor Hugo beschrieben seine Wirkung auch Maler wie Edgar Degas und Pablo Picasso beschäftigten sich mit der Ästhetik der Abhängigkeit von Abinthtrinkern und -trinkerinnen. Gleichzeitig wurde das mystische Getränk politisch für soziales Unheil verschiedenster Art verantwortlich gemacht: Alkoholismus, Erblindung, Wahnsinn und Verwahrlosung. Als schließlich Chemiker und Toxikologen dem aus dem Wermutkraut stammenden Nervengift Thujon im Absinth dafür die Schuld gaben und ein spektakulärer Mordfall in der schweizerischen Gemeinde Commugny unter vermeintlichem Einfluss der „Droge Absinth“ Europa erschütterte, wurde „die grüne Fee“ ab 1908 in verschiedenen Ländern verboten. Auch die damalig aufkommende Abstinenz-Bewegung in der Schweiz und in Deutschland sowie die erhebliche Lobby-Arbeit der Winzer und Kellereien in den Weinbauländern, die durch den maßlosen Absinth-Konsum erhebliche Einbußen ihrer Gewinne befürchteten, unterstützten die Bemühungen der Politik für ein Verbot von Absinth in vielen Staaten. Lediglich Spanien und Portugal haben da nicht mitgemacht und wurden kurzzeitig auch tatsächlich zu alternativen Herstellungsländern. Die bekannte Firma Pernod umging das Verbot in Frankreich, indem sie ihre Produktion anfänglich nach Spanien verlegte. Allerdings blieb der Eigenkonsum in den beiden neuen Produktionsländern immer auf verhältnismäßig niedrigem Niveau. Der Beliebtheit des Absinth tat das Verbot keinen Abbruch: ähnlich wie in den USA während der Prohibition entwickelte sich eine Kultur der Absinth-Illegalität, die nach der Wiederzulassung am Beginn des 2. Jahrtausends (1998) mit dem Wunsch nach Absatzförderung unendlich romantisiert wurde, wie im schön angelegten Absinth-Museum im Städtchen Môtiers (Kanton Neuchâtel), zu sehen ist.
Die Spirituosenverordnung der Europäischen Union schreibt heute vor, dass der Geschmack von Absinth nur durch Zugabe von echtem Anis, Sternanis und/ oder Fenchel sowie ähnlichen Pflanzen, die im Wesentlichen die gleichen Aromen aufweisen, erreicht werden darf. Der Gehalt von Thujon darf 35 mg/l nicht überschreiten, da diese Konzentration noch als gesundheitlich unbedenklich gilt. Allen „Anisées“ ist ein Mindestalkoholgehalt von 15 % Vol. vorgeschrieben. Bei der Herstellung gibt es verschiedene Vorgehensweisen: (1) Mazeration, (2) Destillation, (3) erneute Destillation des Alkohols unter Zusatz der Pflanzenteile und Beigabe von natürlichen, destillierten Extrakten der Anispflanze. Dies klingt alles etwas technisch und die Unterschiede zwischen den Verfahren sind im Geschmack, trotz vieler entgegengesetzten Meinungen dazu, häufig nicht auszumachen. In unserer Zeit kann man tatsächlich von einer Renaissance des Absinths sprechen. Die Qualität, die man allerdings heute bekommt ist, dank der verpflichtenden europäischen Richtlinien zur Herstellung, unvergleichbar besser als jene aus der Zeit unserer Groß- und Urgroßeltern.
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