Auf einer kleinen Halbinsel im Vierwaldstätter See mit Blick auf die Stadt Luzern, liegt das Haus, in dem Richard Wagner von 1866 bis 1872 gewohnt hat. Hier fand er nach langer Zeit wieder Ruhe und Entspannung von seinen selbstgeschaffenen Problemen. Aus Staatsraison hatte er Hals über Kopf seinen damaligen Wohnort München verlassen müssen, denn er hatte, entgegen der Absprache mit seinem Gönner König Ludwig II., versucht sich in die bayrische Politik einzumischen. Zusätzlich hatte er sich in ein kompliziertes Beziehungsgeflecht mit zwei Frauen und einem gehörnten Ehemann begeben. Die überstürzte Abreise in die Schweiz und das gemietete Haus dort in beschaulicher Landschaft waren der Beginn eines ruhigeren und kreativen Lebensabschnittes des Komponisten. Cosima, die Mutter seiner beiden Kinder Isolde und Eva, die noch mit dem Dirigenten und Pianisten Hans von Bülow verheiratet war, war erneut von Wagner schwanger. Im Sommer 1869 kam der ersehnte „Stammhalter“ in Tribschen zur Welt und wurde Siegfried genannt. Kurz danach konnte die frisch geschiedene Cosima ihren Geliebten, Richard Wagner, heiraten. In den darauf folgenden Monaten entstand das „Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang“ Fidi war der Kosename für die Tochter Eva, die tatsächlich einen Vogel ihr eigen nannte, dessen Gesang in den Bläserstimmen im Mittelteil des „Idyll“ verarbeitet wurde. Ansonsten zeigt der Titel wunderbar die kindlich-humorige Seite in Richard Wagners Wesen. Später, mit neuer Instrumentalisierung hat Wagner dann ein „Siegfried-Idyll“ daraus gemacht, vermutlich weil es ernsthafter, heroischer und deswegen publikumswirksamer, eben dem egomanischen Meister angemessener, klang. Die Uraufführung fand 1870 als „symphonischer Geburtstagsgruß“ mit kleinem Orchester anlässlich von Cosimas Geburtstag im Treppenhaus des Landhauses in Tribschen statt. Was bei der kleinen Zeremonie Dichtung und was Wahrheit war, bleibt vermutlich unergründlich, denn an Wagners Biographie haben viele Federn mit sehr unterschiedlichen Interessen geschrieben.
Was unzweifelhaft bleibt ist die Schönheit der Musik des „Idylls“. Da Wagner zu dieser Zeit an seinem „Siegfried“ arbeitete waren nicht nur die Namensgebung des Sohnes sondern auch die vielfältigen musikalischen Beziehungen zur gleichnamigen Oper in statu nascendi eine fast logische Konsequenz. Das Konzept der auf den Bühnenhelden Siegfried bezogenen „Leitmotive“ wurde in der Tribschener Musik gleich mehrfach umgesetzt. Wie Wagner Freunden gegenüber gelegentlich versicherte, sei das „Idyll“ eine Art von Programmmusik, deren Inhalt außer Richard Wagner selbst, nie jemand jemals erfuhr. Für den unbefangenen Zuhörer ist es ein Stück absoluter Musik, mit dramatischen Passagen aber immer ganz aus sich selbst heraus verständlich. Erstaunlicherweise wurde gerade dieses intime Musikstück zum Vorbild vieler späterer Orchesterstücke von Komponisten wie Richard Strauss, Jean Sibelius, Arnold Schönberg u.v.a.
Wagners Idylle in der Zentralschweiz war nicht nur ein Ort des Friedens und der Ruhe, es war auch ein Ort der Begegnungen, die vermutlich nicht immer harmonisch und einträchtig verliefen. Wagner war ein großer Egozentriker und das wurde nicht von allen „Freunden“ goutiert. Friedrich Nietzsche, ein häufiger Gast in Tribschen, spürte über die Musik eine Art Seelenverwandtschaft mit dem Komponisten, seine Beziehung zu ihm scheiterte allerdings später aus der Sicht des Philosophen an der vermeintlichen Überheblichkeit Wagners. Auch der Bayern-König Ludwig II. machte sich auf den Weg über die Schweizer Berge zum bewunderten Meister. Diese heimliche Reise wurde für ihn in München fast zum politischen Disaster. Ein anderer problematischer Besucher war sein als Musiker sehr bewunderter Schwiegervater Franz Liszt. Liszt nahm Richard Wagner die Zerstörung der Ehe seiner Tochter Cosima mit Hans von Bülow, einem seiner besten Schüler, außerordentlich übel. Trotzdem sollte die gegenseitige Bewunderung der Musik des jeweils anderen ein Leben lang anhalten.
Es gäbe noch viele Namen von Personen zu nennen, die den Wagners im Landhaus von Tribschen einen Besuch abstatteten. Ich möchte eine herausgreifen, die mich besonders interessiert weil sie im Reigen der schönen und intelligenten Frauen um Richard Wagner, neben Mathilde Wesendonck und Cosima von Bülow einen besonderen Platz einnimmt. Er lud die junge Journalistin Judith Gauthier, die Tochter des bekannten Romanciers Theophile Gauthier, zusammen mit ihrem damaligen Mann, dem Kritiker Catulle Mendes nach Tribschen ein. Der Grund dafür war, dass sie ihre sehr positive Rezension über eine Pariser Aufführung des „Lohengrin“ an die Wagners geschickt hatte. Nach ihrer Ankunft am Vierwaldstätter See begann eine zärtliche Beziehung zwischen Judith (damals 23 Jahre alt) und Richard (damals 56 Jahre alt) die später in Bayreuth zu einer manifesten Bedrohung der Wagnerschen Ehe führte und abgebrochen wurde. Details dieser faszinierenden Geschichte erfahren Sie über diesen link.
Die Schweizer Idylle der Wagners in Tribschen war ein kleines Universum für sich. Im deutschen Unheilsjahr 1933 wurde es in ein noch heute bestehendes und für jeden „Wagnerianer“ unverzichtbares Museum verwandelt (Richard Wagner Museum, Luzern). Fünf Jahre später (1938) wurden die „Internationalen Musikfestwochen“ mit einem Konzert in einem hölzernen, vor dem einstigen Wagnerschen Wohnsitz aufgebauten, Musik-Pavillon eröffnet. Am Dirigentenpult stand kein Geringerer als Arturo Toscanini. Das war der Beginn des „Lucerne Festivals“ zu dem Isabel del Olmo und ich fast jedes Jahr pilgern. Trotz aller Begeisterung für die sinnliche Musik Wagners kann ich nicht vergessen, dass im Umfeld des Komponisten und vor allem seines in Tribschen geborenen Sohnes, eine Keimzelle für eine der größten Katastrophen unserer Geschichte entstanden war. Siegfried Wagner war gefangen im völkischen Geist, der seine Frau Winifred zu ihrer späteren, völlig kritiklosen, persönlichen Freundschaft mit Adolf Hitler getrieben hat.
Bleiben Sie stets neugierig… und durstig!