Kulturelle Aneignung und kulturelle Unterdrückung

Sklavenhandel als Konsequenz der kulturellen Unterdrückung. Aus Bilder-Tafeln zur Länder- und Völker-Kunde, Calw & Stattgart 1883.

Die laufende, gesellschaftspolitische Debatte über die „kulturelle Aneignung“ ist untrennbar mit dem Namen Susan Scafidi verbunden, der ersten amerikanischen Professorin für „Moderecht“ an der Fordham University School of Law in New York,. In ihrem Buch „Who owns Culture?“ (1) nennt sie „Cultural appropriation“ die Bereicherung von dominanten Kulturen, wie z. B. unserer, der weißen, europäisch-amerikanischen,  an kulturellen Elementen schwarzer oder indigener Minderheiten. Neben deren intellektuellem Eigentum, traditionellem Wissen und kulturellen Ausdrucksformen sind es insbesondere die unautorisierte Inanspruchnahme von Tanz, Kleidung, Musik, Sprache, Folklore, Küche, traditioneller Medizin und religiöser Symbole, die sich, laut Frau Scafidi, unter dem Begriff „kulturelle Aneignung“ zusammenfassen lassen. Vielen Forschern und Denkern geht diese enge Begriffsdefinition zu weit, denn sie schließt eine ehrliche Anerkennung und Sichtbarmachung der kulturellen Leistungen von Minderheiten durch Dritte praktisch aus, ja kriminalisiert sie u.U. sogar! Diesem Umstand wird Abhilfe geschaffen durch einen weiteren Begriff, nämlich den der respektvollen „kulturellen Anerkennung“ (Cultural Appreciation).  Im Gegensatz dazu ist die sog. „kulturelle Aneignung“ immer ein egozentrisches, auf den eigenen Vorteil fokussiertes rücksichtsloses Vorgehen auf Kosten einer Minderheiten-Kultur, dem natürlich jede Legitimation fehlt.

Im Kontrast zur kulturellen Aneignung steht die „kulturelle Unterdrückung“ und auch die ist während der Kolonialzeit in exzessiver Weise geschehen. Mit dem Aufstieg Spaniens zur europäischen Großmacht haben Abenteurer, religiöse Fanatiker aber auch viele Realpolitiker die Entdeckung neuer Länder auf dem amerikanischen Kontinent zum Anlass genommen, die spanische Staatsmacht auf diese Territorien auszudehnen. In den folgenden Jahrhunderten sind viele europäische Staaten dem spanischen Beispiel gefolgt und haben Länder in anderen Erdteilen unterworfen. Diese Länder konnten sich gegen die Übermacht der anrückenden und gut ausgerüsteten Europäer meist nicht wehren und wurden kurzerhand zu Kolonien des jeweiligen Mutterlandes und in aller Regel auch wirtschaftlich ausgebeutet. Um die Integration mit den Besatzern zu forcieren wurde in Extremfällen sogar ein kultureller Genozid (kultureller Völkermord) begangen. Dies bedeutete die kulturelle Identität der eroberten Völker zu zerstören, ohne die Menschen zu töten. Gut dokumentierte Beispiele wie dies auch über kulinarischen Terror zu erreichen war, lieferte wiederum Spanien, sowohl im eigenen Lande als auch in seinen neuen Kolonien. Aber das Königreich Spanien war, weiß Gott, nicht das einzige Land in dessen Verantwortung Derartiges geschah. Aus Großbritannien, Portugal, den Niederlanden, Frankreich, Deutschland, und Belgien kommen ganz ähnliche Horrorgeschichten.

Nach der Eroberung Granadas durch die christlichen Heere aus Kastilien und Aragonien begann die Diskriminierung der Moslems und der Juden auf der Iberischen Halbinsel, dabei spielte die Inquisition eine sehr wichtige Rolle. Ihre Aufgabe war es u.a. vom Islam oder vom Judentum konvertierte Christen, die sog. „conversos“, zu überwachen und sie beim geringsten Verdacht auf Beibehaltung ihres ursprünglichen mohammedanischen bzw. jüdischen Glaubens den Gerichten für die Anklage der Ketzerei zu überstellen. Die Inquisitoren hatten ein ganz besonders ablehnendes Verhältnis zum Knoblauch. Knoblauch war für sie nämlich so eng mit dem jüdisch-maurischen Kulturkreis verbunden, dass sein Verzehr bzw. sein entsprechender Geruch häufig schon für die Einleitung eines Verfahrens wegen Ketzerei ausreichte. Lange konnte dies allerdings nicht aufrecht erhalten werden, denn Knoblauch war mittlerweile so beliebt, dass auch alteingesessene Christen nicht mehr auf ihn verzichten wollten. Dies hat sein Überleben im christlichen Spanien schließlich gesichert. Andere bei den Mauren und Juden sehr weit verbreitete Spezereien, wie z.B. der Kreuzkümmel und der Koriander, hatten unter der neuen, herrschenden Schicht nicht so zahlreiche Förderer. Sie fielen daher der Inquisition anheim und verschwanden für Jahrhunderte aus dem Küchenschatz der Iberischen Halbinsel. Dies war eine historische Vorübung für die spätere und noch größere Aufgabe, die im Rahmen der Kolonialisierung Lateinamerikas auf die Spanier zukam.

Neben der Suche nach Gold und materiellem Reichtum kamen viele fromme Ordensbrüder nach Lateinamerika um die dortigen „Wilden“ von den geistigen Wohltaten des Christentums zu überzeugen. Besondere Vorschriften und Empfehlungen für Speisen gibt es in beinahe allen Religionen dieser Welt. Entsprechend voraussehbar waren die Konflikte, die das jeweilige Essverhalten der indigenen Bevölkerung und dasjenige der Eroberer, auslösten. Europäische Nahrungsmittel wie Weizen, Schweinefleisch und Wein wurden als wesentlich besser und gesünder im Vergleich zum landesüblichen Mais, den Hülsenfrüchten, Fleisch von der Jagd und dem Agavenwein namens Pulque angesehen und ihr Konsum unter Gewaltandrohung angeordnet. Die gesundheitlichen Konsequenzen für die Ureinwohner waren dramatisch: durch eingeschleppte Infektionen, gegen die es keine natürliche Resistenz gab, und durch die ungewohnte Ernährung kam es zu einer dramatischen Zunahme der Sterblichkeit. Man hat nachgerechnet, dass es im ersten Jahrhundert der Kolonisation Mexikos durch die Spanier zu einer Abnahme der Bevölkerung um 96 % kam.

Im Vergleich zur „kulturellen Aneignung“, die ja häufig tatsächlich nur eine „kulturelle Anerkennung“ ist, war die „kulturelle Unterdrückung“ das viel Größere Verbrechen und dieser grausame Aspekt der europäischen Kolonialgeschichte sollte uns immer bewusst sein.

(1) Scafidi, Susan. Who Owns Culture? Authenticity and Appropriation in American Law Archived 2010-07-03 at the Wayback Machine, 2005.

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