Die „Rückbeuge“ als Ausdrucksfigur im Flamenco-Tanz

André Brouillet (1857 – 1914): „Une leçon clinique à la Salpêtrière“

Selbst wenn wir schweigen spricht unser Körper mit all seinen dazu zur Verfügung stehenden Mitteln und diese reichen von der Kleidung über die Körperhaltung bis hin zur Gestik und Mimik. Manche Psychologen behaupten, dass die physische Kommunikation eine deutlich höhere Mitteilungswertigkeit habe als die verbale. Über unseren Körper drücken wir meist unbewußt aus was wir fühlen und denken. Die Inhalte der Körpersprache können direkt, intuitiv verstanden werden oder Sie brauchen eine Interpretation. Die Fähigkeit die Gebärden und die Pose seines jeweiligen Gegenübers korrekt zu interpretieren ist ein wichtiger Teil dessen, was wir „soziale Kompetenz“ nennen. Auch die Empathie, das Einfühlungsvermögen, ist ohne das Verständnis der Körpersprache nicht wirklich möglich. Auch der Tanz ist Körpersprache und vermutlich die natürlichste und älteste Kunstform des Menschen. Er verbindet Rhythmus und Musik mit Mimik und Gestik um nonverbal Emotionen zu beschreiben, dabei wurden bestimmte Körperhaltungen bzw. -bewegungen zum Ausdruck von Gefühlen eingesetzt. Im Laufe unserer Menschheitsgeschichte haben unterschiedliche Tänze feste kulturelle Zuschreibungen erhalten und sind zu Volkstänzen oder regionalen Kunsttänzen geworden. Der Flamenco auf der Iberischen Halbinsel ist ein Beispiel dafür.

Das Pariser Hôpital de la Salpêtrière war im 19. Jahrhundert eine der bedeutendsten psychiatrischen Anstalten in Europa. Seine Berühmtheit rührte vor allem von der wissenschaftlichen Bearbeitung des Krankheitsbildes der Hysterie durch den Neurologen Jean-Martin Charcot (1825–1893). Dessen öffentliche Präsentationen von Hysterikerinnen, die er unter Hypnose ihre Krankheitssymptome präsentieren ließ, waren ein begehrtes Spektakel, zu dem sich auch Größen der Zeit wie Sigmund Freud und Oscar Wilde begaben. Der französische Maler André Brouillet (1857 – 1914) hat eine derartige Vorlesung 1887 mit fotographischer Genauigkeit im Bild festgehalten („Une leçon clinique à la Salpêtrière“). Der geniale Neurologe Charcot verletzte mit seinen öffentlichen Vorlesungen ethische Grundsätze der Medizin und war daher später sehr heftiger Kritik ausgesetzt. Geblieben ist allerdings Brouillets Gemälde auf dem man die (namentlich bekannte) junge Hysterikerin in einem Krampfanfall sieht. Ihr nach hinten fallender Körper mit rückwärts gebeugtem Kopf und Rücken wurde 136 Jahre später zum Anlass einer Ausstellung im Salzburger Museum der Moderne mit dem Titel: „Arch of Hysteria – Zwischen Wahnsinn und Ekstase“.

Flamenco Tänzerin (Foto: Pixabay)

Ziel der Ausstellung war zu zeigen, wie die sog. „einfache Rückbeuge“ (Arch of Hysteria) in der Kunst seit Jahrtausenden ihre Darstellung gefunden hat. Die Analyse vieler Kunstwerke deutet darauf hin, dass die zurückgeneigte Körperhaltung eine Art von „Außer-sich-Sein“ beinhaltet, wobei dies, wie Lena Nievers in der die Ausstellung begleitenden Publikation schreibt, durch religiöse Verzückung, tänzerische Ekstase, erotische  Hingabe oder auch Schmerz verursacht sein kann. Die Rückbeuge ist bei vielen Tänzen fester Bestrandteil des Bewegungsablaufes. Bei dieser Pose kommt es zu einer kurzen Verschiebung der Balance des tanzenden Körpers, der in einer Art von unnatürlichem Gleichgewicht kurz stehen bleibt und den Fluss der Bewegung damit zu unterbrechen scheint. Dies erhöht die Spannung im Tanzgeschehen. Die Formationen im Flamenco-Tanz vermitteln durch kontrastierend langsame Bewegungen sowie die aufrechte Körperhaltung Selbstbewusstsein und einen Machtanspruch. Beides kann auch Ausdruck sein des Klischees der spanischen Nationaleigenschaft, dem Stolz. Die Rückbeuge, häufig in Assoziation mit in den Händen gehaltenen und gespielten Kastagnetten  ist im getanzten Flamenco ganz eindeutig auch das erotische Signal einer leidenschaftlichen Ekstase. Wie in der verbalen Sprache drücken im Tanz bestimmte Gesten auch bestimmte Emotionen aus. Neben der erwähnten Rückbeuge, können es verschränkte, in die Hüfte gestemmte oder erhobene Arme sein. Auch Spiele mit expressiven Handbewegungen werden häufig tänzerisch eingesetzt. Im Flamenco-Tanz kommt außerdem dem sog. Duende , einer Art offenen Seelen-Zustandes,  eine entscheidende Rolle zu. Es ist der Moment in dem der Funke vom Tänzer auf das Publikum überspringt und beide, der Schöpfer und seine Zuschauer, unter Zuhilfenahme der Musik, im Rhythmus des Tanzes eins werden.

Zur poetischen Huldigung des Flamenco-Tanzes, der spanischen Sinnlichkeit und des großen Gottes Eros möchte ich aus dem kleinen Büchlein von Laurie Lee „Eine Rose für den Winter – Wanderungen in Andalusien“ zitieren. Der Text wurde erstmals am Beginn der 50iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts veröffentlicht: “Flamenco hat Gesang und Tanz in eine so erotisierte Vollkommenheit verschmolzen, wie es das meines Wissens sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Eine so vulkanische, aber bis in den letzten Nerv beherrschte Sexualität konnte nur im spanischen Volk entstehen, wo moralisch enge Schranken sich mit einem ganz natürlichen Heidentum treffen. Der Sänger ist nur Stimme, die Tänzerin nur Stolz und Begierde. Während sein Gesang in exstatischen Improvisationen schrillt, windet sie sich in seinen Banden und stampft und schluchzt um ihn herum, wobei die unsichtbare Gitarre aus dem Dunkel heraus zart und beständig die geheime Leidenschaft der beiden anpeitscht.“ Das kleine Büchlein geriet nebenbei auch zu einem eindringlichen, und sehr lesenswerten menschlichen Dokument des Spanischen Bürgerkrieges.

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