„Von der Zunge hängt des Menschen Würde und Glück ab“ so hat sich der große Humanist und Theologe Erasmus von Rotterdam (1469 – 1536) einst geäußert und damit gleich auf die doppelte Wichtigkeit dieses kleinen Körperteils hingewiesen. Die Zunge ist essentiell für das Formen der Sprachlaute und genauso bedeutend für unseren Hedonismus. Mit der Zunge empfangen wir sensorische Signale, die höchst erotisch und genussvoll sein können. Die Zunge ist ein Organ sowohl mit sehr empfindlichem Tastsinn als auch einem ebensolchen Geschmackssinn. In unserer Begriffswelt hat die Zunge unendlich viele Attribute zugewiesen bekommen, wir reden von Engelszungen, schweren Zungen, verknoteten Zungen , im Zaum gehaltenen Zungen, losen Zungen, verbrannten Zungen usw., usw. Auch in Buchtiteln kommt die Zunge vielfach vor, der berühmteste unter ihnen ist vermutlich „Die gerettete Zunge: Geschichte einer Jugend“ von Elias Canetti. Auch in der Mythologie hören wir immer wieder von der Zunge, z.B. in der Odyssee von Homer heißt es bei der Beschreibung der Qualen des Tantalos:
Mitten im Teiche stand er, den Kinn von der Welle bespület,
Lechzte hinab vor Durst, und konnte zum Trinken nicht kommen.
Denn so oft sich der Greis hinbückte, die Zunge zu kühlen;
Schwand das versiegende Wasser hinweg,
Als Symbol steht die Zunge für die Stimme der Gottheit, sie wird in vielen Kulturkreisen als Manifestation der Schicksalsstimme gesehen. Von einer ästhetischen Eigenschaft reden wir bei der Zunge allerdings eher selten.
Zwar kann jeder von uns seine Zunge im Spiegel betrachten, was die Bedeutung und das Geheimnis dieses beweglichen und sensiblen Körperteils ist und was er alles machen und spüren kann ahnen wir meist nur sehr entfernt. Auf der sichtbaren Oberfläche liegen die sog. Papillen in denen die Geschmacksknospen sind und in diesen befinden sich die Sinneszellen, mit ihren Rezeptoren für bestimmte Geschmacksstoffe. Nach der Erregung dieser Rezeptoren durch kleinmolekulare Geschmacksmoleküle, senden diese über Nervenbahnen ein Signal an das Gehirn. Dort passiert dann das individuelle Wunder der Geschmackswahrnehmung und Interpretation. Die Signale, die im Gehirn ankommen werden von jedem Menschen individuell und persönlichkeitsbedingt möglicherweise ganz unterschiedlich aufgefasst. Was der eine als Wohlgeschmack identifiziert, mag für einen anderen ein Gräuel sein. „De gustibus non est disputandum“ (über Geschmäcker darf nicht diskutiert werden) hatten schon die Römer festgestellt und das gilt selbstverständlich auch heute noch.
Der Fairness halber sei festgehalten, dass die Zunge nicht das einzige Organ ist, das für den Geschmack verantwortlich zeichnet. Auch die Nase mit ihrem Geruchssinn spielt eine große Rolle, da er das Aroma der Speisen bestimmt. Das Aroma ist die Kombination aus Geschmack und Geruch, die zusammen ein komplexes Geschmackserlebnis erzeugen. Die Signalübertragung der gasförmigen Duftstoffe von der Nase in das Gehirn läuft ganz ähnlich der Geschmacksübertragung von der Zunge ab. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass wenn der Geruchssinn gestört ist, zum Beispiel durch eine Erkältung, das auch die Geschmackswahrnehmung erheblich beeinträchtigen kann. Der Geruchssinn ergänzt die Wahrnehmung durch die Zunge und nur im komplexen Zusammenspiel von Zunge und Nase wird uns ermöglicht, die Vielfalt der Geschmäcker bzw. Aromen zu genießen.
Ein weiteres Wunderwerk vollbringt das Multitalent Zunge durch ihre Rolle beim Sprechen. Sie kann die Luft, die aus der Lunge durch den Kehlkopf strömt, unterschiedlich modulieren und in der Kombination mit der Stimmritze und dem Mund-Rachenraum die Artikulation überhaupt erst ermöglichen. Beim Singen werden im Prinzip die gleichen Organe beteiligt wie beim Sprechen, aber die Anforderungen an die Zunge sind deutlich höher, da sie nicht nur die Laute formen, sondern auch die Tonhöhe, die Lautstärke, die Klangfarbe und die Melodie erschaffen muss. Die Melodie wird im Wesentlichen durch die Abfolge der Tonhöhen bestimmt, die Zunge kann jedoch die Melodie durch ihre Bewegung im Mundraum verändern. Zum Beispiel kann die Zunge die Melodie glatter („legato“) machen, indem sie sich fließend von einer Position zur anderen bewegt, oder die Melodie abgehackter („staccato“) machen, indem sie sich abrupt von einer Position zur anderen bewegt. Die Rolle der Zunge beim Musizieren mit Blasinstrumenten wäre noch ein zusätzliches und umfassendes Kapitel zum vorliegenden Thema.
Die Zunge ist offenbar ein äußerst vielseitiges und leistungsfähiges Organ, das sowohl beim Schmecken, beim oralen Ertasten, beim Sprechen und auch beim Singen eine wichtige Rolle spielt. Vergessen wir nicht, dass die Zunge in der Körpersprache eine bedeutende Rolle spielen kann. Nicht nur erotische Kommunikation läuft fast immer über Zungenspiele ab. Die Zunge ist somit ein wesentlicher Bestandteil sowohl der menschlichen Kommunikation als auch der musikalischen Ausdrucksform des Gesanges. Und – last not least – der Vermittler von Hochgefühlen beim Weintrinken!
Bleiben Sie stets neugierig …und genussbereit durstig!