Kurios: die zoologischen Phantasien der „Bestiarien“ liebten den Wein

„Kamel“ aus dem Bestiarium des Muhammad ibn Muhammad Shakir Ruzmah-‚i Nathani

Die Menschen des Mittelalters standen staunend vor einer Welt, deren Größe und Komplexität sie nur ahnen konnten, denn weder das Wissen über die Geographie der Erde noch die Fortbewegungsmöglichkeiten waren damals ausreichend um die Phantasievorstellungen von anderen Orten und deren belebter Natur zu überprüfen. Gerüchteweise hatten die Europäer von Tieren in Urwäldern jenseits der sie umgebenden Meere gehört, die sich ihrer Vorstellungskraft entzogen. Neugierde und Sensationslust motivierten Künstler und „Wissenschaftler“ am Beginn des Mittelalters ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen und die unbekannten Tiere darzustellen. Der erste Lexikograph war Isidor, Bischof von Sevilla (560 -636), der in seiner 20-bändigen Enzyklopädie „Etymologiarum sive originum“ das Wissen seiner Zeit zusammenstellte. Im zwölften Buch werden die Tiere beschrieben und dieses Werk ist eines der ersten „Bestiarien“ (lat. bestia = das wilde Tier), die im Hochmittelalter, durch Auszüge und Abschriften des Originals, eine Art „Bestseller“ waren.

Einhorn aus dem sog. „Abderdeen“-Bestiarium

Eine andere Quelle aus denen die mittelalterlichen Buchmaler, vor allem im Orient, schöpfen konnten, war das auf Arabisch verfasste Buch von Zakarīyā Ibn Muḥammad al- Qazwīnī mit dem Titel  „Die Wunder des Himmels und der Erde“ (1). In dieser bedeutenden Kosmografie lesen wir Erstaunliches und Amüsantes: zum Beispiel  weiß Al-Qazwînî, lange vor Galilei, dass die Erde eine Kugel ist. Auch über die übersinnlichen Geistwesen bzw. Dämonen des Islam, die geheinisvollen Dschinnen, weiß der frühe Naturforscher Bescheid: „Man glaubt, dass der Dschinn ein luftiges Lebewesen mit durchsichtigem Körper ist, in dessen Art es liegt, dass er verschiedene Formen annehmen kann“ womit er unbeabsichtigt das ganze Dilemma von Glaube und Erkenntnis mittelalterlicher „Wissenschaft“ aufdeckt . In Al-Qazwînîs faszinierendem Buch erfahren wir über Hybridwesen z.B. einem „Volk auf der Insel Ranadsch“: „Sie haben menschliche Gestalt und Flügel, mit denen sie fliegen, und sie sind weiß und schwarz. Sie haben eine Sprache, die sie sprechen und verstehen, die aber jemand anders nicht versteht. Sie trinken und essen wie die Menschen“. Wir lesen sehr viel über die unbekannte Tierwelt. Da gibt es Gattungen mit zwei Gesichtern und Körpern wie Menschen mit Schwänzen oder Hunde mit Flügeln. Auch Menschen ohne Kopf mit Mund und Augen auf der Brust werden beschrieben.

Die visuelle Kraft und Gewalt dieser frühen Weltbeschreibungen sind auch für uns im 21. Jahrhundert noch beeindruckend. In den vielen mittelalterlichen Bestiarien, die erhalten sind, geht es immer wieder um Lebewesen aus fremdländischen Lebensräumen: Tiger-, Elefanten- und Hyänen-ähnliche Kreaturen präsentieren sich auf den Seiten. Aber auch mythologische Fabelwesen feiern ihren Auftritt: man begegnet dem Phönix, Einhörnern und Satyrn. Der Ursprung des Genres „Bestiarium“ liegt in der Antike, seinerzeit waren sie Manuskripte mit Darstellungen von real existierenden Pflanzen und Tieren um die herum sich meist eine Geschichte rankte. Später erfanden und beschrieben entsprechend  dem mittelalterlichen Weltbild die Autoren Phantasiegeschöpfe. Der erwähnte al-Quazwini berichtet beispielsweise von einem Staatsschreiber in dessen Büro ein Käfig stand in dem sich ein Vogel befand „der die Gestalt einer Krähe hatte. Sein Kopf war wie der Kopf des Menschen, und auf seinem Rücken hatte er zwei Höcker“. Wer er denn sei, konnte man den Vogel selbst fragen und der antwortete jedem, der es hören wollte:

„Ich bin die Krähe Abu Adschwa
Ich bin der Sohn des Löwen und der Löwin
Ich liebe den Wein und die Duftkräuter
den Rausch und den roten Wein.
Du brauchst Dich nicht zu fürchten vor meinem Gezänk,
und vor meinem Angriff musst du dich nicht in Acht nehmen.
Ich habe Dinge die du neu findest,
am Tag der Hochzeit und der Einladung.
Dazu gehört ein Höcker auf dem Rücken,
den das Fell nicht verdeckt;
Mit dem anderen Höcker nun ist es so:
Wäre an ihm ein Henkel
so würde kein Mensch daran zweifeln,
dass er ein Kännchen wäre.“

Der Sinn der Worte der Krähe ist offensichtlich vielschichtig und in seiner Komplexität schwer zu verstehen. Man kann nicht davon ausgehen, dass uns der Autor nahöstlichen Nonsense-Humor vermitteln wollte. Vielleicht kommt man ihrem Inhalt etwas näher, wenn man den Vogel als Dämon sieht. Vögel standen als Symbole für Transzendenz, für die Seele und für göttliche Offenbarung. In der Rangordnung der Tiere thront die Krähe des Staatsschreibers hier, ganz oben, denn sie stammt vom Löwen, dem König der Tiere, ab. Sie liebt den Wein und den Rausch, was im Islam ja eigentlich zu den Verfehlungen zählt. Sie hat zwei unterschiedliche Höcker, jene mysteriösen Auswüchse bei Kamelen über deren Bedeutung die Menschen im arabischen Kulturraum seit Jahrhunderten gerätselt haben. Dort haben auch Kamele eine Symbolik: der Religionsstifter Zarathustra war Kameltreiber und er selbst wird oft durch ein Kamel symbolisiert. Dieses Wüstentier besitzt für Beduinen auch heute noch spirituelle Kraft!

(1) al-Quzwini, Die Wunder des Himmels und der Erde. Aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet von Alma Giese, Edition Erdmann, Lenningen, 2004

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