Das Geschmackserlebnis Wein findet im Kopf statt

Das Innere der Walnuss ähnelt der Struktur des Gehirns. Bild von Ulrike Leone auf  Pixabay. 

Als Veranstalter und Durchführender von Weinproben habe ich über die Jahre festgestellt, dass Geschmacks- und Geruchsempfindungen enorm manipulierbar sind. Wenn man mit der Autorität des „Fachmannes“ eine bestimmte Sensorik vorgibt, wird diese von den Probenteilnehmern in den meisten Fällen auch erlebt. Wenn man in einem Chardonnay zarte Mango-Nuancen anmerkt ohne sie tatsächlich zu spüren, wird immer der einer oder andere beipflichten. Diese Tatsache ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass der Geschmack nicht in den Sinneszellen auf der Zunge oder am Gaumen entsteht sondern irgendwo weiter oben, z.B. im Gehirn.

Die Grundlage der Geschmackswahrnehmungen sind nur eine ganz kleine Gruppe von Geschmäckern für die es entsprechende Rezeptoren gibt (an den Geschmacksknospen im Mund- und Rachenbereich). Diese Qualitäten sind süß, sauer, salzig, bitter und umami. Daneben gibt es, mit dem Blick auf Wein, noch andere Rezeptor-vermittelte Qualitäten der Geschmacksempfindung, allen voran der Geruch. Man kann davon ausgehen, dass über 80 % unsres Geschmackserlebnisses beim Wein über seinen Duft vermittelt wird. Auch die Aktivierung von Schmerzrezeptoren kann, z.B. beim Erkennen von alkoholischer Schärfe im Wein, eine Rolle spielen. Mechanorezeptoren erkennen die Viskosität des Weins, eine für das Qualitätsempfinden meist unterschätzte Eigenschaft. Schließlich ist die Temperatur des Weins für die Geschmacksempfindung von ganz wesentlicher Bedeutung, so kann sich z.B. Süße im Wein bei niedrigen Temperaturen kaum entfalten.

Bei der Frage was mit all den geschmacksrelevanten Signalen passiert wenn der erste Schluck in der Kehle verschwindet, wird es kompliziert:  Die Geschmacksfasern einiger Hirnnerven leiten die Erregungen von den Rezeptoren in den Hirnstamm. Dort enden sie zunächst im sog. Nucleus solitarius, einer Region in der grauen Substanz. An dieser Stelle wird ein Teil der Signale verarbeitet, hier liegen nämlich solche Basisfunktionen wie Speichelfluss, Schluckbewegungen und Würgereiz (Ausspucken), also durchaus wesentliche Voraussetzungen für den Weingenuß. Der Löwenanteil der Informationen wird allerdings zu den Kerngebieten des Zwischenhirns geleitet. Dort, im sog. „gustatorischen Cortex“,  wird die Geschmacksempfindung schließlich erzeugt, d.h. die Geschmacksreize werden erkannt und mit Geruchs-, Viskositäts- und Temperatureindrücken zu den Aromen zusammengesetzt, die wir erleben.

Ein wichtiger Aspekt unserer Geschmackswahrnehmungen ist die Erinnerung; die Gedächtnisschaltzentrale unseres Gehirns ist offenbar eng verknüpft sowohl mit dem Geschmacks-  als auch ganz besonders mit dem Geruchsinn. Jeder Mensch weiß aus eigener Erfahrung, dass Geruchseindrücke besonders gut im Gedächtnis bleiben, insbesondere dann wenn sie mit einem emotionalen Erlebnis verbunden sind. Gerüche werden über sehr lange Zeit erinnert und sind sehr resistent gegen das Vergessen. Bei der Zusammensetzung des Geschmackserlebnisses im Gehirn spielt die Erinnerung eine große Rolle und erklärt, warum die Geschmacksempfindungen verschiedener Probenteilnehmer bei einem gemeinsam verkosteten Wein so unterschiedlich sein können. Auch der Lebensstil scheint sich auf den Weingeschmack auszuwirken: abenteuerlustige, sportliche und gesellschaftlich sehr aktive Weinfreunde sind meist auch beim Wein offener für neue Geschmäcker und Düfte als die eher bedächtigen und konservativen Genießer.

Der Geruchs- uns Geschmackssinn sind vermutlich in unserer Evolution die ältesten Sinne und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Genetik des Menschen verankert. Die individuelle Ausprägung der einzelnen für den Geschmack zuständigen Rezeptoren kann von Mensch zu Mensch erheblich variieren. Weine mit einer gewissen Süßreserve  werden beispielsweise von den einen hochgeschätzt von anderen als „süße Plörre“ abgetan. Das Gleiche kann man mit der Säure eines Weines erleben – ein ewiger Diskurs bei Rieslingfreunden. Auch die unterschiedliche individuelle Geschmacksprägung nach der Geburt hat erhebliche Bedeutung für das spätere Verhalten  gegenüber Geschmacksreizen. Somit hat der berühmte lateinische Spruch des großen Küchenmeisters Jean-Anthelme Brillat-Savarin „De gustibus non est disputandum“ seine wissenschaftliche Grundlage.

Der große Unterschied zwischen uns Menschen und den anderen Lebewesen auf dieser Erde ist, dass bei uns Essen und Trinken nicht nur den physiologischen Bedürfnissen der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme dient, sondern neben der notwendigen Aufnahme von Nährstoffen auch ausgeprägte Lustgefühle hervorrufen kann. Dieser Hedonismus ist, so weit wir wissen, einzigartig beim Menschen und hat zur Entwicklung einer eigenständigen Kulturbranche, der Gastrosophie, geführt. Das Wort „Oenosophie“ wäre das inhaltliche Pendant für den Weingenuss. Die Ergebnisse der komplexen Zusammenhänge bei der Entstehung des Weingeschmacks und -geruchs bekommen erst dann Bedeutung, wenn sie beschrieben werden. Es reicht nicht aus, einen Wein nur zu probieren, das sinnlich Erlebte muss in Worte gefasst werden, denn nur so kann es kommuniziert werden und entsprechende Wertschätzung erfahren. Auch das Bewusstwerden des eigenen Weingeschmacks hilft bei der Einordnung des erlebten Geschmacks in das große und vielfältige, sinnliche Spektrum der Oenosophie.

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