Grau denken!

Ausschnitt aus Pablo Picassos in Grautönen gemaltem Bild „Guerica“ (Museo Reina Sofia, Madrid)                  

Versetzen Sie sich einmal kurz zurück in den Monat November:  der Blick durch die Fensterscheibe offenbart in alle Blickrichtungen ein tristes Grau: Der Himmel, die Nachbarhäuser, die Straße und die Menschen unter ihren Regenschirmen auf den Bürgersteigen sind kontur- und farblos. Im Kalender lesen Sie „Allerseelen“, „Volkstrauertag“ und „Totensonntag“, diese Gedenktage finden alle in diesem Monat statt und führen uns vor Augen, dass der Tod omnipräsent ist. Zu dieser Erkenntnis bin ich selbst allerdings schon vor langer Zeit, völlig ohne das Zutun der grauen Novembertristesse, gekommen. Die Assoziation von der „Unfarbe“ Grau mit dem Tod hängt wohl genau mit dieser Farblosigkeit zusammen: denn Grau ist die Vorstufe von Schwarz. Schwarz ist ja, strenggenommen, überhaupt gar keine Farbe, sondern lediglich ein Zustand ohne Licht. Wo kein Licht ist, ist auch kein Leben – also Tod, Verletzbarkeit, Angst und Unsicherheit! Schwarz wirkt auf uns folgerichtig aufwühlend und bedrohlich, gemahnend an den Tod, die Trauer, die Ruchlosigkeit der Menschen und das Böse schlechthin. Wie die Abenddämmerung die finstere Nacht ankündigt weist Grau auf das Schwarz hin. Dabei gibt es viele Abstufungen zwischen Hell- und Dunkelgrau, die dann jeweils die Intensität der von ihr induzierten Gefühle beschreiben können.

Ob die Bezeichnung Grau eine negative oder eine postive Assoziation bewirkt hängt sehr vom eigenen Standort ab. Wenn man, im Morgengrauen von der Dunkelheit der Nacht in den hellen Tag eintritt, ist Grau positiv konnotiert. Ebenso steht graues Haar für Erfahrung und Weisheit. Wir sprechen von der grauen Eminenz wenn wir Personen beschreiben wollen, die die Fäden im Hintergrund ziehen und damit die Entscheidungen Anderer beeinflussen. Die Sprachwissenschaft, die sich mit der Entstehung von Worten und Begriffen beschäftigt, lehrt uns, dass das Wort „grau“ aus dem althochdeutschen Wort „grao“ entstanden ist. Um die erste Jahrtausendwende war der Sinn dieses Wortes mit den Begriffen „erleuchtend, freundlich, heiter oder strahlend“ verbunden, es stand also damals eher ein Ausdruck von Optimismus hinter dem Wort „Grau“.  Auch die grauen Steinornamente und -figuren gotischer Kathedralen vermittelten einen zum Himmel strebenden Positivismus. Diese Sichtweise war weit entfernt von der grauen Novembermelancholie der heutigen Tage.

Der Philosoph  Peter Sloterdijk hat sein sehr lesenswertes Buch „Wer noch kein Grau gedacht hat – Eine Farbenlehre“ (Suhrkamp Verlag, Berlin 2022) mit einem Ausspruch des Malers Paul Cézanne begonnen, dieser soll nämlich gesagt haben, so lange man kein Grau gemalt habe sei man kein Maler. Der Autor selbst versucht in seiner Schrift das Grau als Metapher für die philosophische Zweideutigkeit politischer und moralischer Handlungen zu etablieren. Mit seinem Bezug auf Cézanne streift er, meiner Meinung nach, auch einen wesentlichen Aspekt der Kunst: die Suche nach einem Kompromiss zwischen der Realität und dem Ideal des Künstlers zu finden. Die Unfarbe Grau überzeugt nicht mit einer schrillen und leuchtenden Buntheit der Darstellung, sondern möchte Neutralität und vermeintliche Objektivität vermitteln. Kein Künstler hat dies ergreifender umgesetzt als Pablo Picasso mit seinem monumentalen Gemälde „Guernica“, der in Grautönen gehaltenen, anklagenden Visualisierung von Kriegselend und Terror!

Unabhängig von seinem Inhalt hat mich der Titel von Sloterdijks Buch angeregt mir eigene Gedanken über das „Grau-Denken“ zu machen. Immer wieder bin ich bei der Einsicht gelandet, dass es in der Realität nur selten die indiskutable Alternative von Schwarz oder Weiß gibt. Das „Sowohl-als-auch“ trifft man in vielen Situationen an und um in so einer Grauzone eine Entscheidung zu treffen, muss ich abwägen zwischen den eigenen und den Wünschen meiner Umgebung. In diesen Momenten befinde ich mich im deutlichen Gegensatz zu dem eindimensionalen „Entweder-Oder- bzw. Schwarz-Weiß-Denken“. Dagegen erfordert das Nachdenken in Sowohl-als-auch-Kategorien meist den Umgang mit komplexeren Zusammenhängen. Gelegentlich muss man sich wohl auch zum Querdenkertum bekennen. Leider hat dieser Begriff eine merkwürdige Entwicklung genommen: während der Corona-Krise hat sich eine Gruppe von Personen „Querdenker“ genannt, weil sie wissenschaftlich fundierte Tatsachen leugneten und sich damit gegen den Rest der Gesellschaft stellte. Es war eine antiintelektuelle Weltsicht die, Gottseidank, von den meisten Bürgern abgelehnt wurde. Das Denken in Gegensätzen, also das Querdenken, ist eigentlich die Essenz des Grau-Denkens und kann unseren persönlichen Gesichtswinkel erheblich erweitern.

Grau ist, wie erwähnt, auch die Farbe des Alters und über diesen Lebensabschnitt hat die bedeutende, österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916) einmal geschrieben „In der Jugend lernt, im Alter versteht man.“ Die Richtigkeit dieser Aussage habe ich am eigenen Leibe erfahren: den Begriff der Ambiguitätstoleranz kannte ich zwar schon lange, aber seinen tatsächlichen Sinn habe ich erst beim Nachdenken über das Grau-Denken verstanden. Er bezeichnet die Fähigkeit, mit mehrdeutigen Situationen zu leben und dabei die Widersprüche zur Kenntnis zu nehmen und zu akzeptieren. Ich verkneife mir noch viele Worte über diese essentielle menschliche und sozial unverzichtbare Eigenschaft zu verlieren und plädiere dafür, dass wir alle, die Bürger, die Politiker, die Kunstschaffenden und die Wissenschaftler lernen sollten mehr Grau (= Ambiguität) zu denken“!

Bleiben Sie stets neugierig …und genussvoll durstig!

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