Sommersehnen

Ich schreibe nachfolgendes am Beginn eines Monats Mai. Wieder blüht der Frühling, die Allergiker zücken ihre Taschentücher und die trockennäsig Gebliebenen atmen tief, um sich am süßen Blütenduft der Vorgärten zu ergötzen. Trotz der wieder intensiveren, warmen Sonnenstrahlen fröstle ich, denn die Temperaturen orientieren sich noch an den kühlen Nächten. In meiner Fantasie macht sich die Hoffnung auf den Sommer breit. Sollte ich mich nicht viel mehr über das zarte Pflänzchen der jungen Jahreszeit freuen als in die, sommerlich reife Ferne zu sehen? Habe ich mich nicht oft über jene Mitbürger aufgeregt, die nie mit ihrer Gegenwart zufrieden sein können? Im „Jetzt“ zu leben hieß meine Devise und ließ wenig Raum für die Zukunft; und in diesem „Jetzt“ höre ich gerade durch das offene Fenster unten auf Frankfurts Straßen das zarte Zirpen der Grillen im Rauschen des Sommerwindes. Eine Fata Morgana oder ein hedonistischer Traum?

In meiner Vorstellung erscheinen, wie durch ein Kaleidoskop betrachtet, die Bilder der vielen vergangenen Sommer im Süden. Nur eine nostalgische Erinnerung an unbeschwerte Tage, an denen wohlige Wärme das Gefühl von Freiheit vermittelte? Mein dünnes, kaltes Blut des Alters erhitzt sich in den Kapillaren und wird zu liquider Lebensfreude, die einem neuen Anfang entgegenströmen will.  Aber der Fluss wird von inneren Kräften kanalisiert und fließt zurück in den alten See der längst darin ertrunkenen Emotionen und Leidenschaften. Was bleibt, ist die Musik. Sie hat ihre Komponisten überlebt und wird auch meine Nachtgedanken überleben. Die zarte und wohlklingende Melodie des Sommers ertönt am Horizont des Frühlings und das bereits am Beginn des Monats Mai! Der licht verschmutzte Großstadthimmel lichtet sich und gibt die Sicht frei auf die Sternbilder des Skorpion, des Großen Wagen und der Kassiopeia. Irgendwo dort, in den Tiefen des Weltalls, jenseits unserer Vorstellungskraft, endet mein Denken und Fühlen. Ich werde, angesichts dieser unendlichen Weite zur Demut gezwungen. Nicht weil ich klein und unbedeutend bin, sondern weil ich spüre, dass ich alleine und verletzlich sein werde.

Der Sommer ist der Scheitelpunkt im Kreislauf der Jahreszeiten und auch des Lebens. Für mich ist längst der Herbst angebrochen und meine Sommersehnsucht ist das Spiegelbild meiner Erinnerungen an Vergangenes. Ist es die Flucht vor den Schatten alter Herausforderungen? Flucht, selbst wenn sie ein vermeintliches Ziel hätte, wäre für mich trotzdem immer eine Reise ins Ungewisse, vielleicht sogar in grenzenlose Sphären, die mir noch völlig unbekannt sind. Das ist die alte Entdeckerfreude, die mich meinem Alltag durch Worte entfliehen lässt. In meinem Bewusstsein ist der Sommer nicht nur eine Jahreszeit, sondern er ist ein emotionales Ideal. Diese Vorstellung verleiht dem Sehnen nach dem Sommer vielleicht sogar eine universellere Bedeutung: Der Sommer verbindet die Menschen miteinander. Sie liegen dicht gedrängt an den Stränden, verabreichen sich gegenseitig Sonnenschutzmittel auf ihre exponierte Haut und kämpfen miteinander um die Sitzplätze in den Strand-Kneipen. Weniger Kleider schaffen körperliche Nähe, der Sommer ist auch ein erotisches Erlebnis, selbst im hohen Alter noch! Wenn die Verdunstungskühle auf der feuchten Haut ein zartes Prickeln hinterlässt, dann werden meine Sinne ebenso wach wie durch das intensive Licht und die leuchtenden Farben dieser Jahreszeit. Ich werde den Sommer auf einen Altar heben und anbeten und wenn er dann endlich da ist, werde ich wieder voll und ganz im Jetzt leben. Wieder wird es die perfekten Augenblicke meiner Eigenzeit geben, in denen ich die Kreativität anderer Künstler, sowie meine eigene erkenne und ausleben kann. Dann werden sich sicher wieder neue Perspektiven auftun. So denke ich am Beginn eines Monats Mai.

Peter Hilgard

Frankfurt, 07. 05. 2025

 

 

 

Empfehlen Sie uns weiter - würde uns freuen!