
Opernhaus Odessa. Detail. (Dank an NadiiaArt bei Pixabay)
In meinem Arbeitszimmer hängt in einem einfachen Holzrahmen ein kleines, etwas stümperhaft gemaltes Ölbild der Oper von Odessa. Irgendwann in den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts bin ich auf Einladung eines Krebsforschers, ich nenne ihn Prof. Solajew, an der dortigen Universität nach Odessa geflogen. Es muss im Frühsommer gewesen sein, denn ich erinnere mich an das bunte, quirlige Leben auf den Straßen und in ihren Cafés. Einer der architektonischen Höhepunkte dieser bezaubernden Stadt ist das neubarocke Opernhaus, welches sicher zu den schönsten Opernhäusern in Europa zählt. Zusammen mit meinem akademischen Cicerone habe ich das Gebäude erkundet und mir damals fest vorgenommen, einmal zu einer Veranstaltung wiederzukommen.
Ich konnte mich in den drei Tagen meines Aufenthaltes zeitweise von meinen beruflichen und sozialen Verpflichtungen loseisen und auf eigene Faust die Stadt ergründen. Nicht weit von der Oper entfernt führt die berühmte Treppe, die durch Sergej Eisensteins Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ aus dem Jahr 1925 weltberühmt wurde, hinab zum Hafen. Als ich dorthin kam, standen ganz oben an der Treppe im sanften Sonnenlicht des Morgens eine Sängerin und ein Geiger und musizierten. Wundervolle Sopran-Klänge aus La Traviata, Rigoletto und der Butterfly schallten in diesem Moment über den Platz und schufen eine unwirkliche, beinahe magische Atmosphäre. Die Treppe war leer und sah deutlich weniger unglücksschwanger aus als im Film-Klassiker. Ich bin durch die, damals noch recht heruntergekommenen Straßen mit ihren klassizistischen Fassaden, von denen einige wohl noch aus der Zeit Katharinas der Großen stammten, gewandert und habe in Bars lokales Bier getrunken und in einem feinen Restaurant Stör gegessen. In unvergesslicher Erinnerung blieb mir ein Abend, den ich zusammen mit Prof. Solajew in dem Garten eines Restaurants hoch über dem Schwarzen Meer verbrachte. Ich glaube, dass wir in dieser Sommernacht einen moldawischen Rotwein tranken, der uns zu einem sehr angeregten Gespräch animierte. An einem der Nachbartische saßen ein paar Russen, die sich an Champagner ergötzten und immer lauter wurden. Mein ukrainischer Partner begann eine Schimpftirade auf die Russen, ihr Auftreten und die Zurschaustellung ihres arroganten und protzigen Lebensstils. Hätten die Russen den etwas mühsam Englisch-sprechenden Professor verstanden, hätte es mit Sicherheit eine fürchterliche Schlägerei gegeben. Mir aber wurde klar, dass unversöhnlicher Hass gegen alles Russische meinen Kollegen beherrschte. Nach einer weiteren Flasche des Rotweins konnte er mir wenigstens beipflichten, dass doch Tolstoi und Tschaikowsky, obwohl Russen, große Künstler waren.
Als wir uns am nächsten Tag, etwas verkatert, wieder vor meinem Hotel trafen, um zum Flughafen zu fahren, gab mir der ukrainische Professor jenes Ölgemälde der Oper von Odessa als Abschiedsgeschenk. Vor einigen Tagen habe ich in einer Zeitung ein Foto gesehen, auf dem Odessas Oper umgeben war von hohen Bergen aus Sandsäcken und davor Soldaten, offenbar zum Schutz vor Kriegshandlungen. Der Hass vom Abend am Schwarzen Meer ist dreißig Jahre später zu bitterböser Wirklichkeit geworden und das unprätentiöse Ölgemälde von Odessas Oper erinnert wehmütig an die mittlerweile längst vergangene Zeit des Friedens und meinen bislang unerfüllten Wunsch wiederzukommen.