
„Hänsel und Gretel“. Holzschnitt von Ludwig Richter (Gondrom Verlag, Bayreuth)
Im vergangenen, wohltemperierten Sommer habe ich aus kindheitsbezogener Nostalgie und zu meiner moralischen Erbauung immer wieder den dicken Band der „Kinder und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm“ in die Hände genommen, darin gelesen und mich an den Textbegleitenden Holzschnitt-Illustrationen von Ludwig Richter erfreut. Diese Reise in die Vergangenheit hat meine Großmutter wieder zum Leben erweckt und ich hörte ihre leise, weiche Stimme mir von Hexen, Feen, Königen, Prinzessinnen, Bauern, Rittern, Riesen, Zwergen, Wäldern und Schlössern erzählen. Es war eine bunte und vielfältige Welt, die ich ehemals abends vor dem Einschlafen erleben durfte: Sie war geprägt von Harmonie und dem ständigen Sieg des Guten über die bösen Anfechtungen einer schändlichen Welt.
Bei der heutigen Lektüre, beinahe acht Jahrzehnte später, erschienen mir die Grimm’schen Texte alles andere als kindgerecht. Ich fand Geschichten, in denen Inzest (Allerleirauh, Brüderchen und Schwesterchen), Leichenschändung (Das eigensinnige Kind), Mord (Hänsel und Gretel), Nekrophilie (Schneewittchen), Kannibalismus (Der Räuberbräutigam), Tierquälerei (Der Nagel u.a.)), und Selbstverstümmelungen (Aschenputtel) vorkamen. Diese ethisch fragwürdigen Elemente sind natürlich auch den Pädagogen bekannt und die Frage nach Gewalt und Grausamkeit in Grimms Märchen führt bis heute zu sehr kontroversen Diskussionen. Die Befürworter argumentieren, dass Märchen ja vom Leben erzählen und dazu gehört eben auch das Gewalt- und Grausame. Ein ganz extremes Beispiel dafür findet sich im Märchen „Der Räuberbräutigam “: als Banditen eine Jungfrau in ihr unterirdisches Versteck geschleppt hatten, wurde sie gezwungen, Wein zu trinken und schließlich „rissen sie ihr die feinen Kleider ab, legten sie auf einen Tisch, zerhackten ihren schönen Leib in Stücke und streuten Salz darüber“ um sie zu verspeisen. Mord und Kannibalismus auf nur knapp drei Textseiten! Andererseits sind die Protagonisten in den Märchen häufig lediglich Rollen, die man als Symbol auffassen sollte. Wenn in „Hänsel und Gretel“ die Hexe ihren Kopf in den Backofen steckte, in dem die Gretel gebacken werden sollte, “gab ihr Gretel einen Stoß, daß sie weit hineinfuhr, machte die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor. Hu! Da find sie an zu heulen, grauselich; aber Gretel lief fort, und die gottlose Hexe mußte elendiglich verbrennen“. Für das Kind verbrennt da keine wirkliche Person, es ist das Böse an sich, welches hier gerechterweise vernichtet wird. Nur durch dieses Verständnis, zu dem Kinder offenbar intuitiv besser als Erwachsene in der Lage sind, bleibt den Kindern das gewohnte soziale System erhalten und sie fühlen sich wohl. Schließlich haben die Kinder die Gewissheit, dass das schreckliche Böse auch durch sie selbst besiegt werden kann, dafür steht ja das kleine Mädchen namens Gretel.
Wenn ich, als reifer Mann, die Märchen der Brüder Grimm kritisiere, tue ich dies aus einem gesellschaftlichen Bewusstsein, welches tief mit der Ethik und Moral unseres aktuellen Kulturkreises verwurzelt ist. Zerstückelung von Leichen und Verbrennungsöfen für Menschen sind uns Erwachsenen durch die Beispiele des Journalisten Jamal Khashoggi bzw. der Shoa während des Dritten Reichs durchaus nicht realitätsfremd. Kinder haben natürlich einen ganz anderen Ausgangspunkt in der Rezeption von Märchen, das zeigen die Jahrzehnte meiner persönlichen Erfahrung mit der Grimm-Lektüre. Als Kind haben mir die von meiner Großmutter niemals bewusst ausgewählten und vorgelesenen Märchen sicher sehr gutgetan. Ich glaube, dass mir durch sie Wertvorstellungen vermittelt wurden, die mich bis heute prägen. Die Fantasiewelt der vielen „unnatürlichen“ Wesen wie Elfen, Riesen und sprechende Tiere übt unvermindert eine Faszination auf mich aus und macht meine Gedanken- und Gefühlswelt deutlich bunter und diverser. Die Märchen haben mir seinerzeit Mut gemacht, dass aus wenig sehr viel entstehen kann und man sich deshalb um das Detail bemühen muss. Ich glaube, dass wer als Kind mit Grimms Märchen aufgewachsen ist, der erinnert sich an das Schöne, und nicht daran, dass die Märchen teilweise auch sehr grausam waren.
Eine ganz andere Frage, die noch zu beantworten wäre, ist, ob die Kinder verstehen, dass Grimms-Märchen einen Zeitgeist repräsentieren, der aus heutiger Sicht obsolet erscheint. Töchter werden, ohne deren Einverständnis, Männern gegen eine bestimmte Leistung versprochen und überhaupt, die Frau ist immer und in jeder Situation dem Mann untergeordnet. Menschen mit schwarzer Hautfarbe werden als „Neger“, dem berüchtigten N-Wort, beschrieben. Rassismus und Klassenbewusstsein ist in den Grimm’schen Texten allenthalben anzutreffen. Ist es berechtigt, die alte und sprachlich so schöne Märchensammlung der Gebrüder Grimm verlegerisch so zu bereinigen, dass sie unserer heutigen Lebens- und Erfahrungswelt entspricht? Meine persönliche Antwort ist eindeutig Nein! Die gesamte Weltliteratur entspringt einem jeweiligen Zeitgeist und das macht auch einen großen Teil ihres Reizes aus. Warum sollte dies nicht auch für Märchen gelten? Jedes der von den Grimms aufgeschriebenen beginnt mit einem klaren Hinweis, dass es sich in der Vergangenheit zugetragen hat („Es war einmal…“ o.ä) und gerade Kinder scheinen zu verstehen, dass ihr Inhalt Vergangenheit und nicht Gegenwart beschreibt, ja, mir scheint die große zeitliche Distanz zum Jetzt geradezu eines der Geheimnisse der Märchen zu sein.
Bleiben Sie neugierig …und genussvoll durstig!
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