
Robert Schumann: Romantrik am Rande des Wahnsinns? (Foto: Wickipedia, gemeinfrei)
Jeder Opernfreund kennt die große und ergreifende Wahnsinnsszene in Donizettis „Lucia di Lammermoor“. Die Protagonistin wird nach einem begangenen Mord von Wahnvorstellungen ergriffen. Nicht viel besser ergeht es dem von seiner Geliebten betrogenen „Wozzeck“ in der gleichnamigen Oper von Alban Berg. In der Opernliteratur ließen sich leicht noch ein weiteres Dutzend musikalisch dargestellter Wahnsinniger aufzählen, was nur besagen kann, dass dieses Sujet auf die Komponisten eine besondere Anziehungskraft hatte. Diese Erkenntnis führt mich zu der These, dass Musiker vielleicht selbst näher als ihre Zuhörer am Wahnsinn stehen und damit mehr Verständnis für diesen Gemütszustand aufbringen können. Bis ins vorige Jahrhundert war Wahnsinn identisch mit Verrücktsein und wie Johanna die Wahnsinnige im 15. Jahrhundert, wurden die Betroffenen in Narrentürmen oder Kerkern gefangen gehalten. Nach damaliger Definition war Verrücktheit das Gegenteil von vernünftigem Verhalten. Sie hatte also etwas mit dem Denken, der urmenschlichen Eigenschaft, zu tun. Neben dem Denken ist Kreativität ein weiterer Pfeiler unserer Kultur. Ein außerordentlich kreativer Mensch wird allgemein als Genie bezeichnet und einer unserer größten Denker, der griechische Philosoph Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) stellte die These auf, dass Genie und Wahnsinn nahe beieinander liegen. Dies haben mittlerweile sogar genetische Studien bestätigt: kreative Menschen haben eine größere Wahrscheinlichkeit an bestimmten psychischen Erkrankungen zu leiden. Ob der Umkehrschluss, nämlich dass psychisch Erkrankte über ein größeres Kreativitätspotential verfügen, wird, meines Wissens, vermutet, ist aber nicht bewiesen.
Ich möchte dieser Frage am Beispiel des Komponisten Robert Schumann (1810 – 1856) nachgehen. Unter Medizinhistorikern besteht gegenwärtig die Überzeugung, dass Schumann in seinen letzten Jahren an einer progressiven Paralyse litt. Diese Erkrankung ist wiederum eine Spätfolge der Syphilis, die sich der Komponist als 21-Jähriger erworben hatte. Fortschreitende Demenz, Wahnvorstellungen und Persönlichkeitsveränderungen stellen die psychischen Einschränkungen dar, die Schumann an seinem Lebensende schließlich in die Nervenheilanstalt in Endenich bei Bonn brachten. Auf diesem historisch gesicherten Hintergrund ist die Frage berechtigt, wie sich die Psychose des Komponisten auf seine Musik ausgewirkt hat. Da muss man zunächst gegen das schon damals verbreitete Vorurteil kämpfen, dass von einem Geistesgestörten nichts künstlerisch Wertvolles geschaffen werden könne. Heute ist ein neues Interesse für die psychopathologischen Zusammenhänge in der Tonkunst Robert Schumanns erwacht. Kann man in der Musik des vermeintlich Verrückten sein geistiges Leiden nachvollziehen? Um dies beantworten zu können, muss man sich etwas intensiver mit seinem „Spätwerk“, also der Musik seiner symptomatischen Krankheitszeit, beschäftigen. Bei einem Künstler, der 46 Jahre jung starb, von einem Spätwerk zu sprechen widerstrebt mir eigentlich, könnte aber durch den spezifischen Krankheitsverlauf gerechtfertigt sein.
Der Zustand, der allgemein als „Wahnsinn“ beschrieben wird, unterscheidet sich in manchen Aspekten nicht wesentlich von der seelischen Verfassung bei einem Drogeninduzierten Rausch. Wir wissen z. B., dass Musiker wie Johannes Brahms, Richard Wagner, E.T.A. Hoffmann und Ludwig van Beethoven die Volksdroge Nummer eins, den Alkohol, regelmäßig in Maßen genossen haben. Ob und was sie vielleicht beschwipst komponiert haben könnten, wissen wir dagegen nicht. Teile der berühmten „Symphonie fantastique“ von Hector Berlioz sind ziemlich sicher unter dem Einfluss von Heroin geschrieben worden. Der Göttinger Professor Lichtenberg (1742 – 1799) schrieb in seinen „Sudelbüchern“ (Heft L, 33): ”Der Mensch ersetzt oft durch Phantasie und Wein, was ihm an Naturkräften abgeht. Das muss notwendig ganz eigene Phantasie und Weingeschöpfe hervorbringen.” Wenn man den Begriff Wein etwas breiter interpretiert und Rauschmittel allgemein daraus macht, liegt man vermutlich ganz richtig beim Verständnis der Aussage des Professors. Bei Schumann ist der Alkoholmissbrauch in jungen Jahren gut dokumentiert und es kann als sicher gelten, dass etliche seiner großen romantischen Werke im Rausch komponiert wurden. Ein Biograph verstieg sich einmal sogar zur These, dass Schumann überhaupt nicht geistes-, sondern schlichtweg alkoholkrank gewesen sei.
Unter dem Spätwerk sind mir zwei Kompositionen besonders ans Herz gewachsen: das Violinkonzert in d-moll und die Geistervariationen für Solo-Klavier. Das d-moll-Konzert war Schumanns letzte Orchesterkomposition und hatte es aus verschiedensten Gründen sehr lange schwer in den Konzertsälen Fuß zu fassen. Es ist in der Tat kein Blendwerk im Stile der (spät-)romantischen Zeit. Im Gegenteil, tiefe Klänge herrschen vor, die Farben haben eher einen Pastellton und die große Ernsthaftigkeit gepaart mit tiefen Empfindungen, erzeugen Visionen von innerer Schönheit. Über den drei Sätzen des Konzerts, die auf Schumanns Anweisung „nicht zu schnell“ gespielt werden sollten, liegt eine zarte Melancholie, die gelegentlich von Eruptionen der Freude unterbrochen wird. Ich finde, dass die emotionale Spannung dieses Werkes enorm intensiv beim Zuhörer ankommt und keinerlei psychopathologische Züge trägt. Kurz bevor er sich in die Nervenheilanstalt einweisen lässt, schreibt Schumann die Geistervariationen, die er komponierte nachdem ihm Schubert und Mendelssohn das sehnsuchtsvolle Thema vorgeblich gemeinsam vorsangen. Die Variationen dieses Themas gehören, meiner Meinung nach, zum Ergreifendsten was die Romantik in der Klaviermusik hervorgebracht hat. Das Beispiel Robert Schumann belegt in keiner Weise, dass man Rückschlüsse von der Musik auf den psychischen Zustand ihres Komponisten ziehen kann, selbst dann nicht, wenn er pathologisch ist.
Bleiben Sie stets neugierig …und genussvoll durstig!