‚Der Wein schläfert die Sorgen ein wie der Alraun die Menschen, den Frohsinn weckt er so wie das Öl die Flamme.‘ das können wir in der anmutigen Schrift des Xenophon mit dem Titel „Das Gastmahl“ (2,24) aus dem frühen Athen der großen Philosophen, lesen. Darin geht es eigentlich um die Knabenliebe der Protagonisten Kallias und Autolykus, eine klassische Huldigung an den Gott Eros. Die Alterumsforschung nimmt an, dass das Vorbild für Xenophon das berühmte Werk „Symposium“ von Platon war. In der späteren Sichtweise auf das altgriechische Symposium wurde die ursprüngliche Idee des Gastmahls inhaltlich in zwei verschiedene Zweige mit unterschiedlicher Bedeutung, nämlich (1) dem Saufgelage und (2) der wissenschaftlichen Versammlung geteilt. Wenn die von Xenophon erwähnten Sorgen, die von übermäßigem Nachdenken noch verstärkt werden, vom Weinkonsum eingeschläfert werden und damit aus dem Bewusstsein verschwinden, können sich neue Ideen zu Träumen formieren. „Ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt“ hat uns Friedrich Hölderlin (1770 – 1843), in seinem „Hyperion“ ins Stammbuch geschrieben. Aus dem Bisherigen ergibt sich zwangsläufig, dass uns auch der Wein durch Träume vom Bettlerdasein in die Nähe des Göttlichen emporhebt! Welcher Genießer würde das wohl bestreiten?
In seiner „Traumdeutung“ hat Sigmund Freud eine Verbindung zwischen Träumen im Schlaf und den individuellen Lebensumständen des Träumenden hergestellt. In einem Traum können seelische Spannungen oder in der Realität vorgekommene Erlebnisse ihren Ausdruck finden. Thematisch und chronologisch sind Träume immer unbegrenzt, d.h. alles zu dem der Träumende in der Vergangenheit, der Gegenwart und der angedachten Zukunft irgendwann einmal Bezug hatte, hat, bzw. haben wird, kann gleichzeitig passieren und sich als vermeintliche zeitliche und inhaltliche Einheit darstellen. Unabhängig von der Psychoanalyse hat es die Traumdeutung, die sog. „Oneirologie“, vermutlich schon vom Anbeginn der Menschheitsgeschichte gegeben. Sie basiert auf der Vorstellung, dass man durch die Analyse von Trauminhalten etwas über die eigene Zukunft, bzw. die seiner Gesellschaft, erfahren könne. Ein Klassiker ist z.B. die Schlange im Traum. Sie stellt in der trivialen Deutung das Böse dar und symbolisiert die Urängste der Menschen. Die Schlange erinnert an die Verstoßung unserer Urahnen, Adam und Eva, aus dem Paradies und verheißt entsprechend Unglück. Über Jahrhunderte wurden Traumsymbole sowohl von Scharlatanen als auch von seriösen Ärzten und Wissenschaftlern zusammengestellt und in Büchern der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. So konnte jedermann durch einfaches Nachschlagen sein eigener Traumdeuter sein.
Als uraltes Kulturgut unserer Gesellschaft kann der Wein in Träumen selbstverständlich auch selbst vorkommen und gehört nicht zu den ganz seltenen Symbolen. Bei Durchsicht der Literatur findet man, dass Wein eigentlich immer nur einen emotionalen bzw. seelischen Inhalt verkörpert. Ich habe keinen einzigen Hinweis von Bedeutung auf den Alkohol als Trauminhalt gefunden, und wenn dem so wäre, könnte es ja auch nur der Missbrauch sein. Dagegen sind mit dem Wein immer freundliche Situationen assoziiert. Die Sonne, die Süße der Trauben, die Lebensfreunde bei der Weinlese und die bacchantische Lust beim gemeinsamen Genießen sind leicht zu deutende Gefühlszustände. Daneben stehen aber auch ernsthafte Inhalte, wie das religiöse Symbol des Abendmahls im Christentum oder die vier Becher Wein beim großen Seder-Festmahl im Judentum, in denen dem Wein jeweils spirituelle Kraft zugeschrieben wird. In der Trivial-Deutung kann der Traum vom Weingenuss ein Vorbote von Vergnügen mit guten Freunden bedeuten, ist der Wein süß handelt es sich um nette Menschen, ist er sauer eher um meidenswerte. Träumt man von verschüttetem Wein wird man getadelt werden, sieht man das Umschütten von Wein von einem in ein anderes Gefäß, bedeutet dies, dass man auf Reisen gehen wird. Träumt man von blühenden Reben, bleibt man gesund, während ein abgestorbener Rebstock das Misslingen eines Geschäftes signalisiert. Eindeutig von der Psychoanalyse inspiriert ist die Deutung einer Weinflasche: sie ist ein Phallussymbol! In anderen Kulture gibt es auch Wein-Träume, teilweise nur mit völlig anderen Deutungen. Sieht man z.B. in Persien einen Weintrinker im Traum, bedeutet dies, dass lang gehegte Pläne jetzt verwirklicht werden können. In Indien bedeutet eine ähnliche Traumkonstellation, dass man ein hohes Amt übernehmen wird.
In den Träumen der Mitglieder unserer europäischen Gesellschaft spiegeln die Deutungen von Wein-Symbolen die Soziologie des Weintrinkens überhaupt wider. Wer das Weintrinken ablehnt, z.B. weil er Abstinenzler ist, wird bei seinen Weinträumen schwerlich Lust empfinden und eher eine Negativbilanz seiner entsprechenden Trauminhalte ziehen. Bei einem bekennenden Weinfreund ist es vermutlich genau umgekehrt. Der Wein steigert die Sinnenfreude, ist Genussmittel und Aphrodisiakum gleichermaßen und aus dieser Erkenntnis speisen sich auch die Inhalte der nächtlichen Träume ebenso wie die eingangs erwähnten, göttlichen Tagträume. Das Weinglas ist ein Symbol des Glücks und der Freude. Zerbricht es im Traum kann dies die Wiederkehr der von Xenophon angesprochenen Sorgen bedeuten.
Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit meiner Texte wähle ich, traditionsgemäß, die männliche Form. Die Formulierungen beziehen sich in aller Regel jedoch auf Angehörige aller Geschlechter, die ich mit dieser Vorgehensweise nicht diskriminieren möchte!
Bleiben Sie stets neugierig… und durstig!