Lob der Faulheit

Titelblatt von Paul Lafargues Schrift „Das Recht auf Faulheit“ von 1883 (Wickimedia, gemeinfrei)

Wie spannend die Suche nach Synonymen für einen bekannten Begriff sein kann zeigt das Wort „Faulheit“.  Da werden einem beispielsweise Bezeichnungen wie Arbeitsscheu, Arbeitsunlust, Bequemlichkeit, Müßiggang, Passivität und Trägheit vorgeschlagen. Das schönste von allen, weil so wunderbar deskriptiv und menschlich, ist aber die deutsche Umschreibung „Anstrengungsvermeidung“. Der Faule ist also ein Anstrengungsvermeider. Während das Eigenschaftswort „faul“ eine eher negative Bedeutung hat, klingt „anstrengungsvermeidend“ deutlich schmeichelhafter. Im Lateinischen fällt  die Faulheit unter den Begriff „acedia“ und wird, ebenfalls etwas verharmlosend, häufig mit „Trägheit“ übersetzt. Die „acedia“ gehört zu den sieben Hauptsünden der Menschheit und damit ist eine endgültige ethische Bewertung dieses Seinszustandes durch die Gesellschaft der Glaubensbrüder erfolgt. Man muss deshalb jedoch kein Atheist sein um das Lied auf die Faulheit singen zu dürfen, insbesondere wenn wir die Faulheit mit Muße, dem süßen Nichtstun, gleichsetzen. Für diese Denkungsart haben wir einen großartigen Bundesgenossen im römischen Philosophen, Schriftsteller und Redner Marcus Tullius Cicero (106 v.Chr. – 43 v.Chr.). Dieser wurde auch zu tiefst vom Aufklärer Voltaire („Der Wein ist die Nachtigall unter den Getränken“) verehrt. „Otium cum dignitate“ (Muße mit Würde) nannte Cicero den erstrebenswerten Zustand und dieser war die Grundlage für die sog. „vita contemplativa“. Kontemplation bedeutet im nicht religiösem Zusammenhang Erkenntnisgewinn durch Nachdenken. Dem gegenüber steht die auf Tätigkeit konzentrierte Lebensform („vita activa“) mit Erkenntnisgewinn durch direktes Handeln.

Die Huldigung, man möchte fast von einer „Heiligsprechung“ reden,  der „vita activa“ durch den gegenwärtigen Zeitgeist wird einem ständig bewusst gemacht. Die Verbesserung von Arbeitsprozessen zur Steigerung der Effizienz oder Produktivität ist eine entscheidende Motivation für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Mit der Hilfe von „externen Beratern“ und „Coaches“ soll die Arbeitsmoral im Sinne der Produktivitätssteigerung bzw. Erhöhung der Wertschöpfung gefördert werden. Wer erinnert sich nicht an den Diskurs über die Reform des Arbeitsmarktes und der Sozialysteme (Agenda 2010) mit Gerhard Schröders zynischer Ansage „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft“? Der Druck auf die Arbeiter und Angestellten, aber auch auf die Manager, konnte Dimensionen erreichen, in denen die Motivation zur Arbeit verloren ging. Hinzu kam das starke Gefühl des Kontrollverlustes, d.h. Angst vor fehlender Wertschätzung der eigenen Arbeit bzw. Verlust des Arbeitsplatzes. Die Summe all dessen konnte zur Arbeitsverweigerung führen und dann war die Gesellschaft sehr schnell mit Urteilen wie „faul“, „asozial“, „arbeitsscheu“, „kriminell“, „trunksüchtig“ etc. bei der Hand und die Abwärtsspirale begannt sich für den Betroffenen zu drehen! Die „Corona“-Krise verstärkt zunächst den Trend zum sozialen Abstieg, aber Hoffnungsschimmer auf gesellschaftliche Veränderungen danach zeigen sich am Horizont.

Der Schwiegersohn und große Bewunderer von Karl Marx namens Paul Lafargue (1842 – 1911) schrieb 1883 eine Broschüre mit dem Titel „Das Recht auf Faulheit“ . Darin malte er ein düsteres Bild der arbeitenden Bevölkerung in den damaligen Industrieländern, die ihre menschliche Schönheit angeblich völlig verloren hätten, mit wenigen Ausnahmen, z.B. der Spanier. „Will man in unserem zivilisierten Europa noch eine Spur der ursprünglichen Schönheit des Menschen finden, so muß man zu den Nationen gehen, bei denen das wirtschaftliche Vorurteil den Haß gegen die Arbeit noch nicht ausgerottet hat. Spanien, das -ach!- verkommt, darf sich rühmen, weniger Fabriken zu besitzen als wir Gefängnisse und Kasernen; aber der Künstler genießt, den kühnen, kastanienbraunen, gleich Stahl elastischen Andalusier zu bewundern; und unser Herz schlägt höher, wenn wir den in seinem durchlöcherten Umhang majestätisch bekleideten Bettler einen Herzog von Orsana mit »Amigo« anreden hören. Für den Spanier, in dem das ursprüngliche Tier noch nicht ertötet ist, ist die Arbeit die schlimmste Sklaverei.“ Obwohl diese Beschreibung unserer Freunde von jenseits der Pyrenäen,  im 21. Jahrhundert sicher nicht mehr gilt, erkennen wir darin die Utopie Lafargues, die er dem in der 1848er Revolution erkämpften „Recht auf Arbeit“ entgegenstellt. Wie sein Schwiegervater ist er publikumswirksam gegen die Ausbeutung der Arbeiterklasse und versuchte mit seinem Buchtitel „Recht auf Faulheit“ die Gesellschaft ganz bewusst zu provozieren („Schande über das französische Proletariat!“ rief er darin aus). Lafargues Anliegen als revolutionärer Arbeiterführer war nicht so sehr die Förderung der Faulheit im heutigen Sinne als Erholungsphase im Arbeitsprozess, damit dieser noch effektiver, und damit gewinnbringender, erledigt werden kann. Er wollte vielmehr Freizeit für die Arbeiter, damit diese am sozialen Leben teilnehmen und sich weiterbilden konnten.

Auf eine besondere Spielart von Faulheit möchte ich noch eingehen: die Denkfaulheit. Ich vermute, dass dieser Begriff vorrangig zunächst einmal logische Inkonsistenz bedeutet. Ob es sich dabei um mangelnde Intelligenz (Dummheit) oder schlichtweg um die Anstrengungsvermeidung des Denkens handelt mag individuell ganz unterschiedlich sein. Denken ist ja im eigentlichen Sinne auch ein aktiver Prozess in der Tagesbiographie eines jeden von uns und benötigt ebenso wie andere körperliche Funktionen Kalorien und den Willen es zu aktivieren. Es ist Arbeit mit dem Gehirn und die sparen wir uns häufig, indem wir bereits Gedachtes einfach unkritisch aus anderen Zusammenhängen übernehmen. Man darf nicht vergessen, dass das, was wir landläufig Intelligenz nennen, nur zu einem kleinen Teil eine bewusste und überlegte Tätigkeit ist. Ein Großteil unserer Entscheidungen werden unbewusst getroffen. Wir nennen das dann „Intuition“, was möglicherweise nichts anderes als das bereits Gedachte und in unserem Hirn Abgespeicherte ist. Intuitives Denken ist schnell, weniger aufwändig und naturgemäß wesentlich anfälliger für Fehler und trotzdem auch ein elementarer Bestandteil der „vita contemplativa“.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit meiner Texte wähle ich, traditionsgemäß, die männliche Form. Die Formulierungen beziehen sich in aller Regel jedoch auf Angehörige aller Geschlechter, von denen  ich keines diskriminieren möchte!

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