Symposien: Der Rausch, die Gesellschaft und die Kunst

Ich möchte hier von einem, wie ich glaube, ganz typischen Weinerlebnis berichten. Zusammen mit ein paar anderen Weinfreunden saßen wir um den großen Eßtisch auf dem einige appetitliche „tapas“, spanische Appetithappen, herumstanden. Der Gastgeber erklärte was er da gerade in das großbauchige Dekantierglas gekippt hatte. Einige Mitglieder der Tafelrunde stiessen ein gequältes „Aaahhh“ aus und liessen ihre Nasen im Riedel-Glas verschwinden. Nach einer Weile unterbrach ein Mutiger die andächtige Stille und begann über die Rioja, Tempranillo, Holz und das Alter des Weins zu philosophieren. Mein Tischnachbar nickte beipflichtend und fing an von der Reblage zu reden. Das Getränk stamme aus dem Nachbardorf eines anderen Dorfes, durch das er vor zwei Jahren mit dem Fahrrad gekommen sei. Ich stellte mir vor, der etwas schmächtige Tischgenosse könne möglicherweise Volksschullehrer sein. Sein dozierender Tonfall und die vielen ungeordneten Wahrheiten über Spanien, die er ungeniert von sich gab, liessen mich das vermuten. Ich sah ihn radelnd vor mir, mit Hosenklammern an den Beinen und einer ziemlich lächerlichen Kopfbedeckung. Das Gepräch wurde grundsätzlicher und hochtrabender, einige Nasen hatten sich schon gerötet, die europäische Kultur wurde angesprochen, und welche Bedeutung der Wein in ihr hatte, Karl V. und der deutsche Einfluß auf die spanische Kultur wurden bemüht, und je weiter der feuchte Abend fortschritt, desto umfassender wurden die Aussagen. Die Runde glich einem Stammtisch. Anstatt über Politik oder Fußball wurde über Wein palavert. Man sprach kenntnisreich von den Geheimnissen der Winzer und Weinmacher und als wir uns voneinander verabschiedeten, taten wir dies im Bewußtsein heute Abend wieder stundenlang „gearbeitet“ zu haben. War die Veranstaltung mit ihren großartigen Weinen letztlich nicht doch nur eine Rechtfertigung für den begehrten Alkoholrausch? Was der Penner im Bahnhofsviertel durch Wermuth, Schnaps und Bier erlebt, besorgt beim wohlhabenden Bürger im „gehobenen“-Sinus-Milieu teurer Wein. Während der Säufer auf der Strasse wegen seines sozialen Verhaltens eigentlich ein schlechtes Gewissen haben sollte, ist der „gehobene“ Weinkonsument entschuldigt, denn er hatte sein Bewusstsein auf „Kultur-Konsum“ geschaltet. Die vielbelächelte Ernsthaftigkeit, mit der Weintrinken zu einem akademischen Diskurs wird, findet sich natürlich auch genau hier in dieser Gruppe.

Zusammenkünfte der Art wie ich sie eben geschildert habe, haben ihre, vermutlich unbewussten, Vorbilder in der Antike. Das griechische „Symposion“, heute eine Versammlung von Wissenschaftlern, die dem Austausch von Gedanken und Erkenntnissen dient, war in seiner ursprünglichen Bedeutung ein Trinkgelage. Die überlieferten Bilder von Symposien stellen meist ein- bis zwei Dutzend Männer dar, die mit Efeukränzen geschmückt, sich auf Liegen räkelnd, Gespräche führen und Wein trinken. Dabei werden sie von Knaben bedient und von Tänzerinnen, Musikantinnen oder Hetären unterhalten. Solche Symposien wurden vielfach idealisiert bzw. ihre Inhalte in der intellektuellen Bedeutung stark überhöht. Das Saufen, einschliesslich der offensichtlichen erotischen Komponente, war letztlich ganz sicher wichtiger als die gepflegten Gespräche über alle möglichen Themen. Daß dem so war, dafür spricht auch der Kranz auf dem Haupte der Teilnehmer. Der kühl-dunkle Efeu sollte die Sinne klar halten und dem Rausch, sowie dem auf dem Fuße folgenden Kater, Einhalt gebieten. Ihrem Wesen nach waren die Symposien auf die Wohlhabenden der Gesellschaft beschränkt und es wurden, außer den weiblichen Bediensteten, ausschliesslich Männer zugelassen. Selbstverständlich wurde die Trunkenheit bei einem Symposion mit völlig anderen Maßstäben gemessen als der Rausch der einfachen Leute. Bei den sozial besser gestellten Symposiumsteilnehmern war der partielle Verlust der Körperkontrolle die notwendige Begleiterscheinung einer kultivierten Zusammenkunft, während bei den unteren Schichten das gleiche als ein bedauerliches Zeichen dafür angesehen wurde, daß man nichts vertrug. Als ich dies niedergeschrieben hatte und nochmals durchlas, kam mir der Verdacht, daß ich das Thema aus einem allzu zeitgebundenen Gesichtswinkel betrachtet habe, der genau das heutige Verständnis der Gesellschaft, in der ich lebe, reflektiert. Übermäßiger Alkoholkonsum ist in unserer Gesellschaft negativ besetzt, wobei sich der Begriff „übermässig“ an der Kontrolle unseres Verstandes und der Koordinationsfähigkeit unserer Bewegungen orientiert. Im liegenden Zustand der Symposiumsteilnehmer mag letzteres nur eine geringe Rolle gespielt haben, der Verstand aber sollte sich in einem akzeptierten Normbereich bewegen. Sobald dieser verlassen wird, etwa im Shakespear´schen Sinne vom Wein, der im Gehirn die albernen und rohen Dünste zerteilt, bewegt sich der „Trunkene“ ausserhalb der gesellschaftlichen Grenzen. In anderen Gesellschaften, wie z.B. der antiken, griechischen, mag dies ganz anders gewesen sein. Man denke an den lateinischen Ausspruch „in vino veritas“ (im Wein liegt die Wahrheit), denn was war bei einem Symosium wohl wichtiger als ein geistreicher Kopf, der die Wahrheit spricht? Dennoch auch die Symposiumsteilnehmer haben ausschweifenden Alkoholgenuß abgelehnt. Und als Säufer hat man, meist feindliche, Völker abqualifiziert und sie den „Barbaren“ gleichgesetzt.

Übermässiger Alkoholgenuß wurde von den Griechen und Römern mit einem Mangel an Kultur gleichgesetzt. Es ist auffallend wie in der antiken Gesellschaft der Wein und die Art und Weise seines Genusses, ein Maßstab für allgemeines moralisches Verhalten und Zivilisation geworden war. Diese Sichtweise haben später die Araber, immer dann, wenn sie sich nicht so streng um die Abstinenzgebote des Koran kümmerten, ebenfalls eingenommen und über die maurische Kultur ist sie nach Spanien gekommen. Noch im frühen 20. Jahrhundert war dort Trunkenheit völlig gesellschaftsunfähig. Es genügte einer Person in ihrer Vergangenheit einen Fall von Betrunkensein nachzuweisen, um sie für immer als Zeuge in einem Prozess auszuschliessen. Jemanden einen „Borracho“ (Betrunkenen) zu nennen, gehörte zu den größten Beleidigungen und war Grund genug den Kontrahenten zum Duell zu fordern. Während in der Renaissance und im Barock die großen Maler überall in Europa einem gesellschaftlichen Bedürfnis folgten, und Bacchanalien und Trinkgelage darstellten, kommen diese Motive in der spanischen Malerei kaum vor. Die berühmte „Anbetung des Bacchus“ von Velazquez, die im Volksmund auch „Los Borrachos“ (die Betrunkenen) genannt wird, stellt eine Ausnahme dar und wurde vielleicht nur deshalb akzeptiert, weil die Trunkenen – sofort erkennbar – zur niedrigsten sozialen Schicht gehörten. Der große Goya hat das Anstössige des Themas in seinem wunderbaren Gemälde „die Weinlese“ genial umschifft, indem er abstrahiert hat. Man sieht nur die Trauben, und ihre Verwandlung in freudespendenden Wein ist im Ausdruck der Menschen auf dem Bild, die eindeutig höheren Gesellschaftschichten angehören, vorweggenommen. Die Szene ist beschwingt und heiter, eine geniale, indirekte Huldigung an das Getränk Wein.

Wenn vom Zusammenhang von Wein, Kunst und Soziologie gesprochen wird, müssen auch einige der Bildergeschichten Wilhelm Buschs erwähnt werden. In dem Sittengemälde „Die fromme Helene“ ist nämlich ein Großteil der Soziologie der Weintrinker mit genialem Strich festgehalten. So schlabbern auf der Hochzeitsreise die Neuvermählten, der reiche Firmenchef Schmöck und seine junge Frau Helene, natürlich flaschenweise „Wittwe Klicko“ (Veuve Cliquot).

Wie lieb und lustig perlt die Blase
Der Wittwe Klicko in dem Glase.

Der Luxus in der jungen Familie geht so weit, daß sich Helene auch nicht scheut ihres Arztes Rat zu befolgen und in warmem Wein zu baden. Den bekommen hinterher die Armen, die sich vor der Villa Helenes an ihrem „Badewasser“ gütlich tun. Jean, der Diener und heimliche Weinfreund, wird entdeckt und muß seine in der Gesäßtasche versteckte Flasche abgeben. Als sich Schmöck an einer Fischgräte verschluckt und im Todeskampf am Tischtuch zerrt, hat der herbeigeeilte „Schang“ (Jean) nur die auf dem Tisch stehende Flasche im Sinn, fängt sie auf und legt sie an den Mund, während sein Herr qualvoll verscheidet. Nachdem Helene nach dem Ableben ihres Gatten mit dem Vetter Franz anbandelt wird Jean von Eifersucht gepackt und schlägt dem armen Franz die Flasche auf den Kopf:

Und – Kracks! Es dringt der scharfe Schlag
Bis tief in das Gedankenfach.

Der Lebensfaden des Vetters bricht. Schliesslich kann Helene selbst auch nicht mehr dem Alkohol widerstehen.

Nachdem sie ihrem lustvollen Lebenswandel abgeschworen hat, sich dem Wein ergibt, kost sie eine Weinflasche zärtlich, wie einen Bräutigam, an ihrer Wange. Ein Happy End steht ihr der Dichter allerdings nicht zu. Busch macht seine Helene zur Methapher; mit ihr veranschaulicht er das Vorurteil, daß Frauen nichts vertragen. Die Strafe folgt auf dem Fuße: Helene fällt betrunken auf den Tisch mit der Lampe und verbrennt:

Umsonst! – Es fällt die Lampe um,
Gefüllt mit dem Petroleum.
Und hülflos und mit Angstgewimmer
Verkohlt dies fromme Frauenzimmer.

Die Zuordnung der verschiedenen Personen zu den unterschiedlichen Sinus-Milieus dürfte nicht schwer fallen und würde uns humorvoll demonstrieren, daß sich das soziologische Verhalten der Weintrinker in dem seit damals vergangenen Jahrhundert kaum geändert hat.

Aus dem Bisherigen geht deutlich hervor, daß der Rausch bzw. die „Ent-Hemmung“ durch alkoholische Getränke in allen Zeiten und Gesellschaftformen unserer Kulturgeschichte genau definierten soziokulturellen Standards entsprechen mußte. Die Menschen mußten im Laufe ihrer Geschichte lernen mit den psychotropen Wirkungen von Wein und anderen alkoholischen Getränken umzugehen. Eine der hervortretendsten pharmakologischen Eigenschaften des Alkohols, ist ja bekanntlich das Entstehen eines erhöhten Erregungsniveaus beim Trinker. Dies äussert sich in einer Verstärkung des Kommunikationswillens, in Folge dessen es zu gesteigertem Redefluß, Singen und ähnlichen Äusserungen kommt. Daneben erfahren die Betroffenen eine Steigerung der sexuellen Appetenz und insbesondere bei Bier und Schnaps eine höhere Aggressionsbereitschaft. Aber auch Trauer bzw. Traurigkeit können verstärkt werden. So ist es nicht selten, daß selbst hartgesottene Haudegen unter Akloholeinfluß vor Rührung Tränen vergiessen. All diese Wirkungen des Alkohols müssen in einer Gesellschaft strikt kontrolliert werden, um das reibungslose Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten, auch wenn sie unter Alkoholeinfluß stehen. Wie dies im Einzelnen geschieht, wird von der jeweiligen Gemeinschaft festgelegt, die dann die entsprechenden sozialen Standards bestimmt. Alkohol ist gerade in unserer nordeuropäischen Gesellschaft eine ausserordentlich wertbefrachtete Angelegenheit. Auch wir, die Weinfreunde, unterliegen recht oft diesen Zusammenhängen, erstaunlicherweise häufig meist sogar dann, wenn wir unsere Liebe zum Wein verteidigen wollen.

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