Ich habe bemerkt, dass ich bislang noch nicht über das, aus meiner Sicht, schönste Gemüse überhaupt geschrieben habe: die Tomate. Was haben Weintrauben und Tomaten eventuell gemeinsam? Auf den ersten Blick überhaupt nichts anderes als ihren guten Geschmack, ihre runde Fruchtform und ihre große Beliebtheit. Sie kommen aus entgegengesetzten Richtungen dieser Welt. Während die Heimat des Weins im Vorderen Orient zu suchen ist, stammt die Tomate aus den Anden-Regionen Südamerikas. Ende des 15. Jahrhunderts brachte Christoph Kolumbus die kleinen Früchte von „Nueva España“, jenseits des großen Atlantischen Ozeans, in seine spanische Heimat mit. Da dieses in Europa unbekannte Gemüse in jenen Tagen eine goldgelbe Farbe hatte nannte man sie zunächst „Goldäpfel“, ein Name, der sich im Italienischen (pomodoro) noch erhalten hat. Ursprünglich war die Skepsis gegenüber der Tomate (abgeleitet von ihrem Namen „xictomatl“ in der Inka-Sprache) sehr groß. Man hielt sie nämlich für die Paradiesfrucht, mit der Eva den Adam verführt haben soll. Angeblich war sie ein Aphrodisiakum und ihr Verzehr daher jungen Mädchen streng untersagt – eine klassische Verbotssituation in der einstigen Männergesellschaft. Erst im 19. Jahrhundert begann der wirkliche Siegeszug der Tomate und sie eroberte die Küchen Europas. In Österreich wird sie übrigens auch heute noch „Paradeiser“ genannt, was wiederum auf ihre Herkunft aus dem Paradies deutet. Auch das Endprodukt der Weintraube hat, wie wir wissen, paradiesische Eigenschaften!
Ein wesentlicher Grund für die Jahrhunderte lange Zurückhaltung beim Tomatenkonsum war ihre potentielle Giftigkeit. Wie alle Nachtschattengewächse (neben der Kartoffel z. B. auch der Stechapfel und die Tollkirsche) enthält die Tomate das giftige Alkaloid namens Solanin, allerdings nur in den grünen Anteilen und es bedarf schon der Aufnahme einer recht erheblichen Menge dieser Substanz um schwere Gesundheitsschäden davonzutragen (angeblich sollen schon drei Kilogramm unreifer, grüner Tomaten für den Menschen tötlich sein?). Die Deutschen konsumieren im Durchschnitt pro Person 26 Kilo Tomaten im Jahr, so sehr groß kann die Gefahr wohl nicht sein nachdem von „Vergiftungserscheinungen“ meines Wissens bislang nicht berichtet worden ist.
Ich bin ein großer Verehrer des Geschmacks der Tomaten und gerade deswegen verabscheue ich die in Europa üblichen Massenanpflanzungen in Gewächshäusern. Da der Bedarf an billigen Tomaten das ganze Jahr über besteht wird dem über alle geographische Grenzen hinweg Rechnung getragen, indem die Pflanze in einem konstant warmen und feuchten Klima ggf. sogar mit elektrischem UV-Licht beleuchtet in einer Nährlösung an Gestellen wächst. Das Ergebnis ist überall, z. B. in Spanien, den Niederlanden, Deutschland oder Frankreich das gleiche: wässrige, wenig aromatische Früchte mit geringer Säure und noch weniger Süße. So ein Kunstprodukt will niemand! Also hatte ich mich eines Tages zu einem Experiment auf unserem kleinen Stück Land im Süden entschlossen, nämlich in den andalusischen Alpujarras Tomaten für den sommerlichen Eigenbedarf anzubauen, wobei wir äusserst restriktiv mit der Bewässerung umgegangen sind. Das Ergebnis war spektakulär, ob als Spaghettisauce, als Salat, als Gazpacho oder als Tomatensaft verarbeitet, ergab sich ein explosives Aromenspektrum, von dem man kaum ahnte, dass es einer „normalen“ Tomate entsprang. Auch hier gilt, wie beim Wein, die Ernte sollte nach Erreichen der optimalen Reife geschehen. Das intensive Sonnenlicht des Südens initiert die Synthese wertvoller Inhaltsstoffe, u.a. dem Lycopin, ein den Polyphenolen des Weins nicht unähnlicher Farbstoff. Wichtig erscheint mir auch, dass die Pflanze gerade so viel Wasser, wie sie zum Überleben und Gedeihen benötigt, erhält. Es ist wie mit viel Regen beim Wein: zu viel des Wassers bewirkt im wahren Sinn des Wortes die Verwässerung des Geschmacks!
Dank des hohen Bedarfs an Qualitätstomaten haben Züchter von neuen Sorten gegenwärtig Hochkonjunktur. Novitäten wie u.v.a. Stabtomaten, Merindas, Raf-Tomaten, Fleischtomaten, Ochsenherz-Tomaten oder blaue Tomaten finden neben Cherry-, San Marzano- oder Roma-Tomaten zunehmend ihre Liebhaber obwohl sie meist um ein Vielfaches teurer als die übliche Supermarktqualität sind. Angeblich soll es über 30.000 verschiedene Tomatensorten auf der Welt geben. Nichts kann besser als diese Zahl verdeutlichen welchen Beliebtheitsgrad die Tomate in der Kulinarik der ganzen Welt erreicht hat! Auf eine Besonderheit der spanischen Tomaten-Kultur möchte ich noch kurz eingehen, weil sie mir persönlich aus geschmacklicher Sicht äußerst merkwürdig erscheint. Man unterscheidet auf der Iberischen Halbinsel sehr präzise die etwas kostspieligeren Salattomaten von den übrigen für Saucen etc. Für den Salat dürfen sie nicht vollreif sein, sie müssen noch teilweise grün sein. Entsprechend schmecken sie auch: unreif und leicht grasig –aber die spanischen Gourmets mögen es offenbar so. Die Tomaten für die Küche schmecken dagegen meist deutlich besser, auch weil sie eine gewisse Süße enthalten.
Das Thema der Tomatenreife wird auch in der Gastronomie sehr vielschichtig und teilweise kontrovers diskutiert. Konsens besteht allerdings über die schwankende Qualität der im Handel verfügbaren Sorten. Aufgrund des enormen Bedarfs, werden die Tomaten vielfach in den erwähnten holländischen und spanischen Gewächshäusern in einer mineralischen und wässrigen Nährlösung massenweise gezüchtet. Obwohl sie an ihren Rispen u. U. verführerisch leuchtend rot aussehen entbehren sie jederlei Geschmacks, auch weil sie viel zu viel Wasser bekommen. So ist leider im Laufe der Jahrhunderte aus einem Paradiesapfel ein ganz banales Industrieprodukt geworden.
Bleiben Sie stets neugierig …und durstig!