Süß, süßer …ekelig?

Ist dem Menschen die Lust auf Pralinen angeboren? (Foto: Pixabay)

In manchen Gesellschaftsschichten ist es „hip“, die Geschmacksrichtung süß im Essen oder in Getränken zu verteufeln. Das scheint, wenn überhaupt, nur sehr indirekt mit der gesundheitsschädigenden Wirkung von übermäßigem Zuckergebrauch zu tun zu haben. Schon vor vielen Jahren habe ich in diesem Blog meine persönliche Präferenz für trockene Weine kundgetan. Ich glaube nicht, dass ich mit dieser Aussage einem damaligen Geschmackstrend gefolgt bin, denn ich hatte ganz explizit auch Ausnahmen von dieser Regel für mich definiert. Süße Beerenauslesen, süße Tokaier oder süßer Sauternes gehören zu den Höhepunkten der Weinkultur und sind ohne ihren hohen Restzuckergehalt nicht denkbar! Auf dem Hintergrund ihrer Süße können sie unbeschreiblich komplexe Geschmacks- und Geruchsnoten entwickeln und sind dann wahre Juwelen.

Der Mensch verfügt ursprünglich nur über fünf Geschmacksqualitäten: süß, sauer, salzig, bitter und umami. Diese können, wenn sie von einem Individuum wahrgenommen werden, entweder Lust oder Unlust erzeugen. Da die erste Geschmackserfahrung praktisch immer mit der Muttermilch in Verbindung gebracht werden kann, gehen wir im Allgemeinen davon aus, dass deren Süße die erste „hedonistische Erfahrung“ eines Menschen ist. Auch Gerüche können süß sein: Vanille, Jasmin oder frische Backwaren vermitteln die Empfindung von Süße. Ist uns die Lust auf Süßes etwa angeboren? Die erhebliche Bedeutungserweiterung des Wortes „süß“ in unserer Sprache deutet darauf hin, dass dem so ist. Neben den Lebensmitteln, in denen Zucker in unterschiedlichen Mengen und Qualitäten vorhanden ist, wird die Eigenschaft „Süß“ auf Verhaltensweisen, Aussehen, künstlerischen Ausdruck oder Sprache und schließlich sogar auf Charakterzüge anderer Lebewesen übertragen. Kleine Tiere, wie Eichhörnchen, Kätzchen oder Welpen haben einen unwiderstehlichen Niedlichkeit-Faktor, den wir gerne mit „süß“ bezeichnen. Ähnliches trifft auf Babys und kleine Kinder zu. Handlungen, wie Gesten der Zuneigung oder ein schüchternes Lächeln können „süß“ wirken. Suggestive Harmonie auf Bildern oder in der Poesie wird gelegentlich „süß“ bezeichnet. Nicht zu vergessen das „süße Leben“ als ultimative Verwirklichung des Hedonismus. Eine Steigerung davon ist sicher „La dolce far niente“, das süße Nichtstun, welche der große Dichter des Poetischen Realismus Theodor Storm (1817 – 1888) so eindrucksvoll in Worte gefasst hat:

O süßes Nichtstun, an der Liebsten Seite
Zu ruhen auf des Bergs besonnter Kuppe;
Bald abwärts zu des Städtchens
Häusergruppe
Den Blick zu senden, bald in ferne Weite! …

In diesen Zeilen wird der Augenblick gefeiert, nicht faulenzen, sondern dem freien Spiel der Kräfte Raum lassen und Freude am Leben haben, das ist die Botschaft.

Dagegen kann die Verminderung von „süß“ zu „süßlich“ sehr abwertend gemeint sein, denn darin schlummert der heimliche Vorwurf des Kitsches. Postkartenidylle, Musik zum Träumen oder Entspannen und gefühlvolle Bilder erreichen häufig nur eine vordergründige Emotion und bleiben daher süßlich. „Süß“ wird u.a. auch als Synonym für „lieblich“, „reizend“, „goldig“, „wonnig“ „putzig“ „puppig“ u.v.m. benutzt und zeigt damit, wie positiv besetzt gerade die Geschmacksempfindung „süß“ in unserem Leben ist. Dass die Empfindung der Süße durch ein Zuviel in ihr Gegenteil verwandelt werden kann, teilt sie mit den anderen Geschmacksqualitäten: bekanntlich kann ein Zu-Bitter, Zu-Sauer und Zu-Salzig, genau wie ein Zu-Süß, eine Speise ungenießbar machen. Anders als die anderen Geschmäcker signalisiert „süß“ das Vorhandensein eines Grundstoffes unserer Ernährung, nämlich des Traubenzuckers (Glukose). Der Energielieferant für alle Zellen unseres Körpers ist ausschließlich Glukose, sie ist die Zuckerart, ohne die tatsächlich kein Mensch leben kann. Ein Zuviel davon ist allerdings abträglich für die Gesundheit und führt zu der Erkrankung namens Diabetes.

Vielleicht ist es gerade der soziale Konsens über die Qualität der Eigenschaft „süß“, die ihre Ablehnung zu einem individuellen Alleinstellungsmerkmal machen soll. „Ich folge nicht dem Main-Stream, denn ich mag Süßes nicht“, so ähnlich mag der Geschmacks-Individualist argumentieren. Die gegenwärtige Gesundheitsdebatte über die Gefahren des Zuckers kommt ihm da natürlich entgegen. Aber auch in diesem Bereich des Lebens ist es wie immer und überall: das Maß entscheidet, ob es sich um ein Vergnügen oder um einen Exzess handelt. Der Hedonist wird die Künste eines großen Pâtissiers zu genießen und zu schätzen wissen, ohne sich hinterher in medizinische Behandlung begeben zu müssen.   Auch die Schokoladenprodukte eines Chocolatiers bei denen kunstvoll verschiedene Schokoladenarten mit anderen gewöhnlichen und ungewöhnlichen Geschmäckern kombiniert werden, können zu optischen und gustatorischen Highlights sowie zu kleinen Kunstwerken werden. Darauf zu verzichten würde unsere Lebensfreude deutlich einschränken und so müssen die Genießer, wie bei allen Vergnügen ihres Daseins, lernen, das richtige Maß zu halten. Der Gesundheitsfalle durch die Anwendung von Zuckerersatzstoffen bei der Herstellung von Süßigkeiten zu entkommen, ist leider eine mittlerweile fest etablierte Illusion der Konsumgesellschaft.

Bleiben Sie stets neugierig …und genussvoll durstig!

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