„Materielle Genüsse waren ihr ziemlich gleichgültig: gut Essen und Trinken, Bequemlichkeiten, Toilette. Luxus aller Art waren nicht zu ihrem Leben notwendig; wohl aber Umgang mit gebildeten, klugen Menschen, im kleineren Kreis, und Kunstgenüsse. Ihr Freiheitssinn wurzelte tief in ihrer Natur: gegen den Adel und alle Prätentionen der Geburt und des Geldbeutels verhielt sie sich sehr zurückhaltend.“ Diese Beschreibung der Eigenschaften einer der größten Komponistinnen des 19. Jahrhunderts stammt von ihrem Sohn Sebastian. Die Rede ist von Fanny Hensel, geb. Mendelssohn Bartholdy. Diese Frau traf ich im Leipziger Mendelssohn-Haus, wo für den Besucher ihre Musik und ihre Biografie lebendig werden. In ihr hat sich ein für das Jahrhundert typisches Schicksal erfüllt, dass von einem sehr eigeengten und in seinen Möglichkeiten begrenzten Frauenbild geprägt war. Fanny war die ältere Schwester von Felix, Tochter eines Bankiers und Enkelin des großen, jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn. Erstaunlicherweise war gerade dieser Mann ein Wegbereiter der jüdischen Aufklärung und zu Lebzeiten von Fanny bereits ein weltberühmter Philosoph. Die „Epoche der Vernunft“, in die Fanny hineingeboren worden war, begehrte für alle Bürger das Recht auf Selbstbestimmung und Emanzipation.
Allerdings waren Frauen zunächst von diesen Forderungen ausgeschlossen und so konnte der Vater von Fanny, Abraham Mendelssohn Bartholdy, der seine Kinder aus sozialem Opportunismus protestantisch erziehen ließ, an seine damals 14-jährige Tochter schreiben, als sie den Wunsch äußerte wie der Bruder Musikerin zu werden: „Die Musik wird für Felix vielleicht zum Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Tuns werden kann und soll…” Damit war der Stab über die Zukunft des begabten Mädchens gebrochen und Fanny blieb ihr ganzes Leben im Schatten des Rampenlichts in dem Felix Mendelssohn Bartholdy bald stand.
Nachdem Fanny ein Angebot für die Publikation einiger ihrer Lieder erhalten und sie dies angenommen hatte, schrieb sie von schlechtem Gewissen geplagt an Felix am 9. Juli 1846, 10 Monate vor ihrem Tod: „Schande hoffe ich Euch nicht damit zu machen, da ich keine femme libre u. leider gar kein junges Deutschland bin.“ Gibt es ein erschütternderes Dokument erzwungener Bescheidenheit als diesen Satz? Dabei hatte sie, weiß Gott, keinen Grund bescheiden zu sein: sie schrieb neben Solo- und Chorliedern auch geistliche und weltliche Kantaten sowie eine Vielzahl an Kammermusik- und Klavierstücken. Ihr Werkeverzeichnis listet um die 450 Kompositionen in weniger als drei Schaffensjahrzehnten. Obwohl Fanny Hensel selbst der Frauen-Emanzipation ihrer Zeit gedanklich sehr nahestand, dauerte es beinahe 200 Jahre bis sich unsere Gesellschaft ernsthaft für sie und andere Komponistinnen dieser Zeit zu interessieren begann. Die geringe Wahrnehmung ihrer Kunst durch die Gemeinde der Musikfreunde hat als Folge, dass es nur wenige Tonträgeraufnahmen davon gibt. Die junge, lettische Pianistin Lauma Skride hat die 12 Charakterstücke „Das Jahr“ aufgenommen (Sony). Dieses Oevre entstand 1841, noch ganz unter dem Eindruck der einjährigen Italienreise mit ihrem Mann. Bereits das erste Stück dieses Zyklus gibt die Grundstimmung des charmanten Werkes Preis: Gefühlvolle Melancholie begleitet träumerisch das zarte Eröffnungsmotiv, welches als eine Art Leitmotiv im weiteren musikalischen Verlauf des komponierten Jahres immer wieder auftaucht. Dem römischen Karneval im Februar folgt der Frühling als leichtfüßiges Capriccio (April) und Maienlied. Im Sommer (Juni) erwacht der Süden: Gitarrenähnliche Klänge begleiten das duftige Liebeslied und im August wird die Tarantella getanzt. In allen Noten spürt man das große Glück der Fanny Hensel, welches ihr dieser Aufenthalt in ihrem Sehnsuchtsland bereitet hat. Außerordentlich reizvoll sind auch die Fantasie für Violoncello und Klavier in g-moll sowie das Capriccio in As-Dur in einer Einspielung von Johannes Moser und Alasdair Beatson (Pentatone), in der man die musikalische und geistige Nähe zum Bruder Felix sehr deutlich spürt.
Wie bereits angedeutet, ist Fanny Hensels Biografie geprägt von ihrer Frauenrolle in einer großbürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts, in der Selbstverwirklichung für Angehörige des weiblichen Geschlechts schwierig war. Fanny nahm es mit Humor, ihre Briefe zeigen es. Peter Härtling hat in einer Romanbiographie der Fanny Henschel ein literarisches Denkmal errichtet („Liebste Fenchel!“, dtv, München 2013). Wie ihre jüngeren Geschwister Felix Mendelssohn Bartholdy und Rebecka Dirichet, die viele von Fannys Liedern als erste sang, war sie zur Musikerin geboren. Da es aber undenkbar war, dass eine Frau ihres Standes einen Beruf ausüben konnte, war sie ihre Kunst betreffend weitgehend zur Passivität verdammt. Sie schrieb Musik gleichsam zum Zeitvertreib, konnte aber nicht damit rechnen sie jemals in größerem Kreise aufgeführt zu hören und dies, obwohl sie jahrelang selbst die Veranstalterin war der sog. „Sonntagskonzerte“ im Palais Groeben, dem Wohnhaus ihrer Eltern auf der Leipziger Straße 3 in Berlin. Sie kannte die Größen des Musiklebens von Robert und Clara Schumann bis E.T.A. Hoffmann und Franz Liszt und bekam viel Anerkennung von diesen. Ihr späterer Ehemann Wilhelm Hensel, ein 11 Jahre älterer, sehr begabter Maler, den sie mit 16 Jahren kennen lernte, unterstützte ihre künstlerischen Ambitionen wo immer er konnte. Sie starb im Alter von 42 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. Ihr Bruder Felix überlebte Sie nur ein paar Monate!
Bleiben Sie stets neugierig …und durstig!