Entsprechend der geographischen Ausbreitung des Römischen Reiches über die Zeit wandelte sich dessen Küche von ursprünglich sehr einfachen, rustikalen Zubereitungen zu einer höchst raffinierten „haute cuisine“ in den letzten Jahrhunderten des Kaiserreiches. Im Vergleich zur heutigen Situation hatten die römischen Köche und Köchinnen mit einem kaum zu überwindenden Problem zu kämpfen: Kräuter und Gewürze standen nur in sehr beschränktem Maße zur Verfügung und, wenn es sie überhaupt gab, waren sie außerordentlich teuer. Wer auf die Idee kam aus den reichlich vorhandenen Fischen des Mittelmeeres ein flüssiges Gewürz herzustellen ist nicht überliefert, aber es wurde bei Arm und Reich unter dem Namen „Garum“ zum kulinarischen Hit im gesamten Herrschaftsbereich der Römer. Die Herstellung des Garum nahm rasch industrielle Maßstäbe an, die Archäologen berichten uns von Ausgrabungen bei denen große Garum-Manufakturen in Pompeji und Neapolis gefunden wurden. Vermutlich gab es noch sehr viele andere Orte in denen die Würzsoße produziert wurde. Wir müssen uns die Bedeutung des Garum in römischen Haushalten vorstellen etwa wie den obligatorischen Gebrauch von Soja-Soße in manchen asiatischen Ländern.
Wie wurde Garum hergestellt? Frisch gefangene, kleine Fische wie Sardinen, Sprotten und/oder Anchovis, wurde zerkleinert und in großen Bottichen oder in die Erde eingelassenen, gemauerten Behältern zusammen mit Salz und Wasser der Sonnenbestrahlung ausgesetzt. Nach einigen Tagen begann dann die Gärung: die Verdauungsenzyme aus dem Magen- und Darmtrakt der Fische kamen mit dem Fleisch in Kontakt und begannen, Proteine in Aminosäuren und Fette in Fettsäuren umzuwandeln. Im Grunde handelte es sich um die klassische Autolyse, als den ersten Schritt einer „Verwesung“. Dieser Prozess musste gut kontrolliert ablaufen, denn Verunreinigungen wie z. B. durch Bakterien oder Pilze, verdarben den Geschmack des Endproduktes und machten es möglicherweise ungenießbar. Das Salz hatte eine doppelte Funktion: einmal sorgte es dafür, dass durch Osmose Feuchtigkeit aus dem Fisch an die Umgebung abgegeben und so die Funktion der Enzyme intensiviert wurde, zum anderen hemmte das Salz das Wachstum. unerwünschter Keime, war also ein klassisches Konservierungsmittel. Der Prozess der Gärung dauerte mehrere Monate und ab und zu wurde der ganze Brei umgerührt. Die Flüssigkeit trennte man am Ende von der festen Masse, filterte sie und füllte sie als Garum ab. Je nach Auswahl, Proportionierung und Behandlung der verwandten Fische, gab es unterschiedliche Geschmacksvarianten des Garum. So ist schriftlich überliefert, dass das Garum aus dem spanischen Cartagena, welches ausschliesslich aus Makrelen (scomber) hergestellt wurde, durch seinen deutlich milderen Geschmack und Geruch auffiel und teuer bezahlt wurde. Für jüdische Konsumenten wurde koscheres Garum aus Fischen mit Schuppen hergestellt (garum castimoniale). Ausserdem gab es verschiedene „gestreckte“ Garum, z. B. mit Wasser (hydrogarum), Wein (oenogarum) oder Essig (oxygarum). Der Gestank, der bei der Herstellung jeder Art von Garum entstand, war so scheußlich, dass die Produktion aus städtischen Gebieten häufig verbannt wurde. Aus diesem Grunde lagen die Garum-Manufakturen meist am Stadtrand bzw. am Hafen, was den Export natürlich erleichterte.
Im Gegensatz zum Geruch war der Geschmack dieser Soße sehr angenehm und er verlieh den Speisen einen runden, schmackhaften Umami-Ton. In Europa ist mit dem Untergang des Römischen Reiches auch seine Küche, samt des Garum, verschwunden. Würzige Fischsoßen gibt es noch in manchen asiatischen Ländern. In der italienischen Küche hat sich die Tradition mit Fisch zu würzen ein wenig erhalten: Sardellen (Anchovies) sind häufige Ingredienzen von Pasta-Saucen oder Belag für Pizzen. Dem Garum geschmacklich sehr nahe kommt die Colatura di Alici , eine Sauce aus Sardellen, die aus dem Fischerdorf Cetara an der Amalfiküste stammt. Im Zusammenhang mit dem Genuss von vergorenem Fisch muss auch der schwedische „surströmming“ erwähnt werden. Es sind durch Milchsäuregärung konservierte Heringe, deren Gestank nur abgebrühte Nordländer:innen in der Lage sind auszuhalten und deren Historie absolut nichts mit Garum zu tun hat.
Mit Garum ist eng die Geschichte der römischen Stadt Neapolis im heutigen Tunesien, vor der Stadt Nabeul, verbunden. Die Römer eroberten die Stadt von den Karthagern, den mutmasslichen Erfindern des Garums. Fünf Jahrhunderte später kam es zu einer fürchterlichen Naturkatastrophe: ein Erdbeben mit anschließendem Tsunami zerstörte die Stadt vollständig und ließ sie im Meer versinken. Im Jahre 2010 haben Archäologen Neapolis wiederentdeckt und neben gepflasterten Straßen, Monumenten und Wohnhäusern auch industrielle Garum-Fertigungsanlaagen sowie über hundert große Behälter gefunden. Die Forscher nahmen, nach sorgfältiger Analyse, an, dass darin von den Römern Garum hergestellt bzw. gelagert worden war. Vermutlich war Neapolis die größte Produktionsstätte im gesamten Reich für die begehrte Würzsoße und exportierte sein Produkt bis weit über die Landesgrenzen hinaus. Freunde der antiken Küche haben in unseren Breitengraden immer wieder versucht Garum in eigener Regie zu produzieren. Die Ergebnisse dieser Experimente waren samt und sonders eine riesige Enttäuschung. Es scheint nämlich als benötige gutes Garum bei seiner Gärung die Wärme der intensiven Mittelmeer-Sonne.
Bleiben Sie stets neugierig …und durstig!