Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2022 war Spanien Ehrengastland und im Zusammenhang damit gab der Flamenco-Sänger mit dem Künstlernamen „Niño de Elche“ im Frankfurter Mousonturm ein denkwürdiges Konzert. Eigentlich nennt er sich Francisco Contreras und so bürgerlich korrekt wie sein Name sieht er auch aus wenn er die Bühne betritt: dunkler Anzug und schneeweißes, gebügeltes Hemd. Was dann allerdings folgt, wenn seine Vorstellung beginnt, lässt sich nicht so leicht in Worte fassen oder in eine bereits vorhandene, künstlerische Schublade packen. In blauem Licht und Bühnennebel steht ein Mikrophon und rechts davon ein Tisch mit einem Mischpult. Aus dem dunklen Hintergrund tauchen der Sänger und seine Begleiterin für die elektronischen Töne auf. Dann klingt es aus dem Lautprecher wie die „musique concrete“ des vorigen Jahrhunderts gefolgt von dadaistisch anmutenden Klängen des Sängers, die mich an György Ligetis spannende Komposition „Nouvelles Aventures“ erinnern. Allmählich erkenne ich schließlich Fetzen von Flamenco-Tönen, die sich gelegentlich wie Bruchstücke eines „cante jondo“ anhören. In ähnlicher Weise geht es die nächsten 90 Minuten weiter und ich lausche gebannt. Es klingt zeitweise so als seziere der Sänger die Flamenco-Musik und zerlege sie in ihre tonalen Bestandteile. Während sich Worte und Melodien aufzulösen scheinen und zu bloßen Tongebilden oder gar nur zu Geräuschen reduziert werden bleiben die Emotionen im Gesang bestehen. Das war das Mysterium der Musik an diesem Abend!
In einem Beitrag des Deutschlandfunks zitiert die Autorin Julia Macher eine Aussage des Künstlers Niño de Elche: „Das größte Missverständnis ist, wenn Leute denken, dass ich mit dem Flamenco brechen will. Dabei will ich mich nur von der Mehrheitsmeinung über das, was das ist, entfernen. Ich bin ein Ex-Flamenco: Ich habe den Flamenco durchschritten, er hat seine Spuren in mir hinterlassen und manchmal kehre ich zu ihm zurück.“ Diese drei Sätze charakterisieren sehr genau das was ich an diesem Abend gespürt habe: Trotz aller scheinbar fremden und unzusammenhängenden Laute, die der Sänger und seine elektronische Begleitung hervorgebracht haben, wurde im Hintergrund klassische Flamenco-Musik gemacht. Man kann die Kunst des Niño de Elche avantgardistisch bezeichnen, wenn man sich der Herkunft dieses Begriffes bewusst ist: er kommt nämlich aus der Militärsprache und bedeutet soviel wie „Vorhut“. Die komplexe Welt des Flamenco zu verstehen ist eine echte Herausforderung, die vom Künstler angenommen sowie analysiert wurde und ihn dadurch zum Vorreiter einer neuen Entwicklung macht. Die Zuhörer bringt er einen Schritt näher an den Kern des musikalischen Geheimnisses des Flamenco.
Bei der Beschäftigung mit Flamenco- Musik bin ich immer wieder auf den Begriff „duende“ gestoßen. Was ist „Duende“? Im Lexikon findet man dazu die Übersetzungen „Gespenst“, „Kobold“, „Poltergeist“, „Elfe“, „Klopfgeist“ oder „das gewisse Etwas“. Federico Garcia Lorca, der Sprachkünstler aus Andalusien, hat es etwas anders definiert: Duende ist eine Kraft, die durch den ganzen Körper zieht, eine kreative, magische Kraft, die sich in der Kunst, vor allem in der Musik, formt und ihr Ausdruck verleiht. Der Duende ist ein Geist, der dem Künstler die Beschränkung des Intellektes verdeutlicht. Lorca schrieb in seiner berühmten Abhandlung „Teoría Del Duende“: „Alles, was schwarze Töne in sich birgt hat Duende. Diese mysteriöse Kraft kann jedermann spüren aber kein Philosoph erklären, sie ist die Seele der Welt.“ Der 1929 fertiggestellte, surrealistische Film von Luis Buñuel und Salvador Dalí (beide gute Freunde von Lorca) „Le chien andalou“ war in gewisser Weise die Visualisierung des philosophisch unfassbaren Duende und die Hintergrundsmusik die zwischen argentinischem Tango und dem „Liebestod“ aus Tristan und Isolde wechselt, ist eine wundervolle akustische Huldigung eines leidenschaftlichen Begriffs, den es in der deutschen Sprache überhaupt nicht gibt und der sich gut mit Musik, und übrigens auch mit Wein, ausdrücken lässt! Die Musik des „Niño de Elche“ zelebriert den Duende in hohem Maße!
Mit seiner Flamenco-Interpretation ist Francisco Contreras zu einem der bedeutendsten Repräsentanten zeitgenössischer Kunst in Spanien geworden. Schon in seinen Jugendjahren hat der Gitarrist und Sänger die klassische Flamenco-Szene aufgemischt. Sein politisches Engagement richtete sich zunächst gegen die konservativen Kräfte, die der Franco-Diktatur nachtrauerten, dann sympathisierte er mit linken Gruppen, die sich nicht um politische Korrektheit kümmern wollten. Heute ist er ein geistiger Anarchist, der sich und die Welt mit viel Humor betrachten kann. Links oder rechts im politischen Denken existiert nicht mehr für ihn. Auch in seiner Musik legt er sich nicht fest: er verknüpft unterschiedliche Traditionen wie Konkrete Musik, Serialität, spanische Folklore, Rock und Punk sowie Minimalismus. Contreras geht damit weit über den „modernen“ Flamenco-Stil („Flamenco Nuevo“) hinaus, der sich durch eine Verschmelzung von anderen musikalischen Elementen (z.B.: Jazz, lateinamerikanische Tänze oder Rock und Blues) mit dem klassischen Flamenco auszeichnet. Bekanntlich bestand Flamenco ursprünglich nur aus Gesang- und Gitarrenmusik. Die Schöpfungen von Francisco Contreras sind spannende musikalische Collagen aus Gesang und elektronischen Klängen – als Ersatz für die Gitarre -, denen man mit großem Genuss zuhören kann.
Bleiben Sie stets neugierig …und genussvoll durstig!