Wenn ich heutzutage offenen Auges durch die Getränkeabteilung eines der großen Warenhäuser schlendere komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. An die überbordende Weinauswahl aus aller Herren Länder habe ich mich ja im Laufe der Jahre schon gewöhnt, aber dass es ähnlich vielfältig, bunt und kosmopolitisch auch im Spirituosenbereich zugeht, war schon auffallend. Exotische Namen und Etiketten auf phantasievoll geformten Flaschen verheißen exklusiven Genuss. Der Spirituosenkonsument hat selbst kaum die Möglichkeit sich umfassend über das Angebot an Hochprozentigem zu informieren. Immer neue Produkte aus beinahe der ganzen Welt drängen auf den Markt. Ich benötige die Hilfe des Fachmannes und lasse mir vom Verkäufer erklären was ein „Awamori“ von der japanischen Inselgruppe Okinawa oder ein französischer „Ratafia“ aus dem Burgund ist. Diese Unbekannten stehen neben unendlich vielen verschiedenen Gin-Marken mit teilweise gefärbtem Inhalt, braunem und weißem Rum aus Cuba oder der Dominikanischen Republik und, neben vielen anderen bekannten und unbekannten Spirituosen füllt ein Riesensortiment von Whisky aus Schottland, Irland und den USA weitere Regale. Mein Cicerone durch die Abteilung der Hochprozentigen spricht von einer „Spirituosen-Kultur“ und jede Flasche seines Angebotes sei ein Meisterwerk des entsprechenden Herstellers.
Was sind denn eigentlich Spirituosen? Gemäß aktueller EU-Verordnung sind es alkoholische Getränke mit einem Mindestalkoholgehalt von 15 Vol.- %. Der Alkohol muss durch Destillation natürlich vergorenen, pflanzlichen Materials entstanden sein. Nicht alle Spirituosen tragen klare Kennzeichnungen aus denen ihre Kategorie (z.B. Branntwein, Gin oder Fruchtlikör) hervorgeht. Es gibt nicht nur große Freiräume für lokale Bezeichnungen sondern ebenso für kreative Neuschöpfungen. Die überwiegend mittelständisch geprägte, deutsche Spirituosenindustrie tätigt einen Jahresumsatz von etwa 2,5 Milliarden Euro. Allerdings hat sich die Zahl der Brennereien in Deutschland in den letzten 20 Jahren fast halbiert. (statista.com, 04.09.2023) Dies ist die Konsequenz eines sich ständig rückläufig entwickelnden, jährlichen Pro-Kopf-Konsums, der zuletzt im Mittel bei 5,2 Litern lag (1980 waren es noch 8,0 Liter!) Seit 40 Jahren sinkt der Alkoholkonsum in Deutschland langsam aber stetig. Vor allem die Jugend zieht sich mehr und mehr vom Alkohol zurück. Dem trug die Getränkeindustrie mit der Entwicklung alkoholfreier Weine und Biere Rechnung.
Eine völlig neuer Beitrag ist die Entwicklung „alkoholfreier Spirituosen“. Obwohl dieser Begriff, und vielleicht auch das dazu gehörende Produkt, eine Contradictio in adiecto darstellt, wird er benutzt und erfolgreich vermarktet. Bei den „alkoholfreien Hochprozentern“ wie Gin oder Rum, destilliert man Wasser, das mit den gleichen Kräutern versetzt ist, die dem Original seinen Geschmack verleihen. Beim Gin sind es z.B. Wacholder, Koriander, Zitrusschalen, Kardamom oder Piment. Die Herstellung solcher alkoholfreien Getränke ist nicht ganz banal, gerade weil das Ersatzprodukt nie vollständig dem Original gleichen wird, da Alkohol bekanntlich ein Lösungsmittel und Geschmacksträger für die aromatischen ätherischen Öle der verwandten „botanicals“ ist. In den letzten Jahren haben sich mehr und mehr Hersteller von Spirituosen auch mit den alkoholfreien Varianten ihrer Produkte beschäftigt, denn sehr viele Firmen sehen darin ein riesiges Marktpotential, allerdings ausschließlich für Mixgetränke und nicht zum „Solo“-Genuss.
Aufgrund seiner soziologischen Struktur und Historie vollzieht sich in Deutschland der Umschwung zu geringerem Alkoholkonsum deutlich langsamer als in anderen Industrieländern. Vom Boom des alkoholfreien Bieres z.B. in Spanien können die von der Absatztschwäche ihres Gerstensaftes gebeutelten, deutschen Brauer nur träumen! Noch geben in Deutschland die Alkoholfreunde im Pensionsalter, oder kurz davor, den Ton in Geschmacksfragen an, sie belächeln die alkoholfreien Varianten der Klassiker und nennen sie „schwach“, „kraftlos“, „lau“ oder „matt“. Der alkoholfreie Geschmack ist eine Generationenfrage, die sich in den nächsten Jahrzehnten ganz von selbst lösen wird. Ist das dann der endgültige Niedergang der „Hochprozenter“?
Um diese Frage zu beanworten lohnt sich ein Blick in die Geschichte: Alkohol als Genußmittel ist seit Jahrtausenden bekannt und beliebt, die erste Destillation fand aber vermutlich erst im 12. Jahrhundert statt. Getrunken hat man den Branntwein damals allerdings noch nicht. Er wurde als eine Art magische Flüssigkeit angesehen und über die Jahrhunderte in der Medizin innerlich und äußerlich als Therapeutikum eingesetzt. Erst im 15. Jahrhundert erkannte man dann auch seine wohltuende Wirkung als Getränk und der Branntwein setzte sich als beliebtes Genussmittel durch. Gar mit dem Namen „Eau de vie“ (Lebenswasser) wurden die Obstschnäpse in Frankreich geeehrt und zum Kulturgut erhoben. Wenn die alkoholischen Destillate als Getränke heute mehr und mehr abgelehnt werden, so ist das eine Entwicklung zurück zu den Anfängen des Alkohlgenusses. Abgesehen von den ökonomischen Einbußen bei Produzenten und Händlern wäre eine derartige Entwicklung aus sozialmedizinischen Gründen sehr wünschenswert. Alkoholmissbrauch hat, insbesondere bei Jugendlichen, seine Ursachen auch im übermäßigen Genuss von Spirituosen aller Art. „Ready-To-Drink“ heißt die magische Formel für die hipen Rum-Cola-, Cocktail- oder Gin Tonic-Dosen mit 10 Vol.% Alkohol. Keine Frage, freiwillige Abstinenz oder alkoholfreie Produkte wären eine angemessene Prophylaxe des Alkoholmissbrauchs!
Bleiben Sie stets neugierig …und genußbereit durstig!