Die engstirnige Alkoholdebatte geht weiter

Gibt es animierte Geselligkeit auch ohne den Konsum von Alkohol? (Foto von Kampus-Production)

Unter den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Alkohol liegt Deutschland auf Platz fünf. Im Jahr 2019 wurden bei uns 12,2 Liter reinen Alkohols pro Kopf getrunken. Aber es geht noch opulenter: Spitzenreiter war Rumänien mit 17 Litern pro Kopf! Etwa so viel hatten auch die Deutschen 1980 getrunken. Seither ist der Konsum deutlich zurückgegangen. Wenn man allerdings den weltweiten Durchschnittswert betrachtet, liegt dieser bei nur 5,5 Litern pro Kopf und ist damit gerade einmal halb so groß wie in Deutschland. Diese Zahlen machen deutlich, dass – trotz rückläufiger Entwicklung – Deutschland beim Alkohol ein absolutes  Hochkonsumland ist. Entsprechend beunruhigend sind die medizinischen Konsequenzen dieses Verhaltens: im Jahr 2016 starben 19 Tsd Frauen (4 % aller Todesfälle) und 43 Tsd Männer (9,9 % aller Todesfälle) an ausschließlich alkoholbedingten Erkrankungen. Die gesamten volkswirtschaftlichen Kosten des Alkoholkonsums in unserem Land wurden in einer Studie (Effertz T., 2020) mit über 57 Milliarden Euro beziffert. Kein Wunder also, dass sich Mediziner und Gesundheitspolitiker intensiv mit dieser Problematik beschäftigen und ihre Erkenntnisse als „wissenschaftlich begründete“ Empfehlungen für die Konsumenten zusammenfassen.

So hat z.B. die Autorin Eva Mell in der „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) vom 29.12.2023 in einem Kommentar mit dem programmatischen Titel „Alkohol ist ein Zellgift und verursacht Krebs. Jedes Glas ist eins zu viel“ versucht auf das gesellschaftliche Problem des Alkoholtrinkens und seine gesundheitlichen Folgen aufmerksam zu machen. Die schriftliche Reaktion der Leser aber war das eigentlich interessante an diesem Artikel, der einen wahren Sturm der Entrüstung losgetreten hat. Der Autorin wurde vorgeworfen sie habe „in jeder Zeile das moralische Nudelholz“ geschwungen und Ausrufe wie „Wir brauchen keine woke Nacherziehung von selbsternannten Weltrettern!“ oder „Die schweizerisch-protestantische Pfefferminztee-Kultur ist noch schädlicher als der maßvolle Alkoholgenuss“ sind relativ harmlose Kritiken an der Verfasserin des Artikels. „Kein Alkohol, kein Fleisch, kein Zucker, kein Salz! Niemals betrunken, niemals überessen! Niemals nur ein bisschen über die Schnur hauen!  Lebensfreude nur noch beim Frühlingszwiebel-Festival im Genossenschaftsstübchen!“ empört sich ein Leser. „Wie gefährlich ist es, in einer deutschen Großstadt zu leben und dort u.a. bei Inversionswetterlage Feinstaub einzuatmen?“ fragt ein anderer zynisch mit Blick auf die Gesundheitsgefährdung.

Die meisten Leserbeiträge sind sich einig: „Dosis sola facit venenum“ (nur die Dosis macht das Gift). Das wissen schließlich alle Genießer schon immer und richten ihr Konsumverhalten danach, selbstverständlich auch beim Alkohol. Niemand muss dann mit der jahrtausendealten europäischen Trinkkultur brechen und kann sich geschichtsbewusst an seinem „Châteauneuf-du-Pape“, seinem „India Pale Ale“ oder seinem „Glenmorangie“ erfreuen. Beim Verfassen eines Essays über das asiatische Getränk namens „Kumyss“ ist mir aufgefallen, dass dessen pharmakologische Wirkung der des Weines sehr ähnlich ist, sein Alkoholgehalt allerdings nur 2,5 Vol.-% beträgt. Haben wir im europäischen Kulturraum den Alkoholkonsum vielleicht dermaßen übertrieben, dass wir eine genetisch vermittelte Alkoholtoleranz entwickelt haben? Alkohol ist ein für den Menschen physiologisches Produkt: unser Blut hat eine „natürliche“ Alkoholkonzentration von < 0,03 ‰. Diese wird hervorgerufen durch Vergärung von Zucker im Darm. Außerdem nehmen wir, völlig unbeabsichtigt, regelmäßig Alkohol zu uns. Es gibt nämlich sog. „verdeckte Alkoholquellen“, diese stammen aus so unverdächtigen Nahrungsmitteln wie z. B.  Fruchtsäften, Obst und Milchprodukten. In diesen werden ganz natürlich Frucht- oder Milchzucker durch Hefen in kleinen Quantitäten vergoren.  Auch Getränke wie „alkoholfreies“ Bier oder „alkoholfreier“ Wein können noch, ganz legal, einen Restalkoholgehalt von 0,5 Vol.-% bzw. darunter enthalten. Offensichtlich hat der menschliche Organismus wirksame Methoden das „Gift“ Alkohol zu neutralisieren und für den Körper unschädlich zu machen. Es ist nicht einzusehen warum diese Entgiftungsprozesse nicht auch bei moderaten zu sich genommenen Mengen „Genussalkohol“ aktiviert werden können.

Ich habe mich in diesem blog schon vielfach über das Thema Wein und Gesundheit ausgelassen und bin immer wieder zu dem Schluss gekommen, dass jeder Genießer die medizinischen Risiken des Alkoholkonsums für sich selbst abwägen und sein Trinkverhalten dementsprechend anpassen muss  (siehe meine Beiträge hier oder hier). Belehrungen, selbst in einer so renommierten Zeitung wie der NZZ, über unseren Umgang mit dem „Kulturgut“ Alkohol sind redundant, weil sie keine neuen Informationen oder Gesichtspunkte in den Diskurs bringen. Einen kleinen Vorteil hatte der Artikel von Eva Mell, die in Göttingen Germanistik, Geschichte und Theologie studiert hat: er hat die gegenwärtige Sicht auf die Thematik mal wieder ins Bewusstsein der Genießer gebracht. Ich befürchte allerdings, dass man bei einer positiven Gesinnung zum Alkoholkonsum heute das Risiko eingeht sehr schnell „gecancelt“ zu werden. Die „Kultur der Absage“ (Cancel Culture) ist eine Bedrohung auch für den Weinfreund, denn seine Leidenschaft untergräbt vermeintlich die Volksgesundheit und ist daher moralisch verwerflich. Ist das tatsächlich die Wahrheit oder nur der Beginn einer Meinungszensur? Wenn letzteres, müssen wir uns dagegen mit aller Kraft wehren!

Bleiben Sie stets neugierig …und genußbereit durstig!

 

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