Weisheit und Torheit im Alter

Lucas Cranach d.Ä (1472 – 1553): Der Junbrunnen (Ausschnitt)

Die Psychologie des Alterns kann entweder als ein biologisches oder als ein sozialpsychologisches Phänomen aufgefasst werden. Je nachdem ob man die biologischen Veränderungen oder die Bedeutung der sozialen Umwelt einer alternden Person betrachtet, kann man in vielen Fällen zu sehr unterschiedlichen Erkenntnissen kommen. Dies wird besonders deutlich wenn es zum Konflikt zwischen der objektivierbaren Geschwindigkeit des Ablaufs der biologischen Uhr und dem persönlichen Altersempfinden kommt. „Man sei so alt wie man sich fühlt“ wird geradezu als vermeintlich wissenschaftliche Erkenntnis gefeiert und deshalb von sehr vielen Menschen geglaubt. In ihrem sozialen Umfeld möchten sie zeigen, dass sie „jung“ und „fit“ sind und deswegen eine soziale Sonderstellung einnehmen. Manch einer erkämpft sich mit Hilfe einer Milliarden Euro schweren Anti-Aging Industrie „seine zweite Jugend“. Dass dieser “Jugendwahn” nicht unproblematisch ist, ergibt sich zwangsläufig.

Einen Fehler sollten wir allerdings tunlichst vermeiden, nämlich zu glauben Altern sei eine Krankheit. Ein Blick auf die Statistik des Medikamentenverbrauchs in verschiedenen Altersgruppen könnte die Richtigkeit dieser Aussage vermuten lassen. Ältere Menschen verbrauchen nämlich überdurchschnittlich viele Arzneimittel: 20- bis unter 25-Jährige nehmen 80 Tagesdosen (eine genau definierte Maßeinheit für Arzneistoffe) pro Jahr ein , dagegen verbrauchen 80- bis 84-Jährige mit 1.669 Tagesdosen pro Kopf jährlich in etwa das 20-fache. Das hängt nur insofern mit dem Alter zusammen, als in diesem Lebensabschnitt der Mensch häufig mehrere therapiebedürftige Gesundheitsstörungen gleichzeitig hat. Bei oberflächlichem Hinsehen passiert es natürlich, dass dieser Zustand direkt als „Krankheit Alter“ definiert wird. Das ist ein fataler Trugschluss, denn er würde ja bedeuten, dass Leben selbst eine Krankheit ist. Als notorischer Pessimist könnte man das vielleicht so sehen, dann wären aber die jungen Jahre eines Kleinkindes oder eines heranwachsenden Menschen in beinahe noch höherem Maße eine Krankheit, denn sie beinhalten in der Summe noch mehr Fehlleistungen des Körpers und des Geistes als das Alter. Dafür hat das Alter einen unschätzbaren Wert, die sog. „Altersweisheit“. Ja, die gibt es, trotz der Aussage von Ernest Hemingway (1899 – 1961), wirklich! Der Literatur-Nobelpreisträger von 1954 schrieb einmal: „Die Altersweisheit gibt es nicht. Wenn man altert, wird man nicht weise, sondern nur vorsichtig.“ Man kann allerdings berechtigte Zweifel an Hemingways eigener Weisheit haben: er erschoss sich im relativ jugendlichen Alter von 62 Jahren. Ein Zeichen von Weisheit ist nicht nur der Respekt vor dem Leben, auch dem eigenen, sondern insbesondere auch die Fähigkeit Kompromisse zu finden. Der Weise kann Probleme lösen indem er fähig ist sie aus mehreren Perspektiven gleichzeitig zu sehen. Auch das Eingeständnis etwas nicht zu wissen zeugt von Weisheit. „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ hat uns Sokrates ins Buch der Erkenntnisse geschrieben. Obwohl das Gedächtnis und andere kognitive Leistungen im Alter häufiger versagen, erleichtert Lebenserfahrung die Fähigkeit eine Sache objektiv und ausgewogen zu beurteilen.

Die Verminderung kognitiver Fähigkeiten bei älteren Menschen mag auch ein zusätzlicher Grund sein für das Sprichwort „Alter schützt vor Torheit nicht“. Landläufig wird die Torheit mit Dummheit, Beschränktheit oder Einfalt gleichgesetzt. Torheit wäre umgangssprachlich vermutlich mehr oder weniger das Gegenteil der Weisheit. Der berühmteste Tor der Opernliteratur ist wohl Richard Wagners Bühnenperson des Parsifal. Die Titelfigur ist der „Reine Tor“, der durch „Mitgefühl wissend“ geworden ist und schließlich zum Gralskönig erhoben wird. Der Tor wird zum Erlöser! In seinem großartigen Werk „Lob der Torheit“ schreibt der große Humanist Erasmus von Rotterdam mit spöttischem Geist über die personifizierte Eigenschaft namens Frau Torheit, die im Gelehrtentalar und der Narrenkappe auf dem Kopf vor ihre Zuhörerschaft tritt und verkündet: „Mögen die Menschen in aller Welt von mir sagen, was sie wollen – denn ich weiß, wie übel auch die ärgsten Toren über die Torheit herziehen –, es ändert nichts daran, dass Götter und Menschen es mir, ja, mir allein und meiner Kraft verdanken, wenn sie heiter und fröhlich sind.“ Die Torheit ist demnach komplementär zur Weisheit, sie ist das Element, welches Spaß und Freude ins Leben bringt und es dadurch erträglich macht. Man denke nur an die Rolle des Hofnarren des Mittelalters. Von einem Fernsehreporter interviewt haben sich der Dalai Lama und Bischof Desmond Tutu, beide nicht im Verdacht oberflächlich und einfältig zu sein, gegenseitig angefrotzelt und scherzhafte Grimassen ausgetauscht. Man spürte sehr deutlich, dass dies reiner Ausdruck von Lebensfreude und heiterer Gelassenheit war. Das ist mehr als Humor, aber auch Humor und ein Zeichen der positiven Weltsicht dieser beiden Menschen. Schließlich lässt Erasmus noch Frau Torheit den 1. Korintherbrief 3:18 zitieren: „Niemand soll sich selbst etwas vormachen! Wenn einer von euch meint, er gehöre zu den Klugen dieser Welt, muss er erst einmal begreifen, dass seine Klugheit Torheit ist; nur so wird er wirklich klug.“ Hier liegt nicht nur der Schlüssel zu Parsifals Persönlichkeit sondern auch eine tiefe Lebensweisheit. Ich bin der festen Überzeugung, dass nur eine symbiotische Beziehung von Weisheit und Torheit eine unbeschwerte und ausgefüllte Lebensführung  ermöglichen kann – und zwar in jedem Alter!

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