Unter den deftigen und wortmächtigen „Volkserzählungen“ von Leo Tolstoi (1828 – 1910) befindet sich die Geschichte „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ und diese handelt vom Bauern Pachom, der in die Region der Baschkiren wanderte um Land zu erwerben. Dieses am Südural-Gebirge lebende Turkvolk wird folgendermaßen beschrieben: sie „wohnen in der Steppe am Fluß in Zelten aus Filz. Sie treiben keinen Ackerbau und essen kein Brot. In der Steppe weiden ihre Vieh- und Pferdeherden. Hinter den Zelten sind die Füllen angebunden, und zweimal am Tage treibt man die Stuten zu ihnen hin. Die Stuten werden gemolken, und aus der Milch wird Kumyß bereitet. Die Weiber rühren den Kumyß und machen daraus Käse; die Männer tun nichts als Kumyß und Tee trinken, Hammelfleisch essen und die Flöte blasen.“ Ein beschauliches Leben, wie es schien. In diesem Text stieß ich erstmals auf den Kumyss, welcher in einer Fußnote als aus Stutenmilch bereitetes heißes, schäumendes, schwach alkoholisches Getränk beschrieben wurde. Man saß in fröhlicher Runde auf weichen Kissen oder Teppichen und trank den Kumyss aus Tassen. Kein Wunder, dass das „ungebildete Volk“ der Baschkiren „lauter gesunde, lustige Leute waren, die den ganzen Sommer lang feierten.“
Kumyss wird von vielen asiatischen Steppenvölkern zubereitet und getrunken. Ursprünglich war es ein Nahrungsmittel der Nomaden, wie z.B. bei den erwähnten Baschikren, oder denen in Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan oder Tadschikistan. Dort kann man den Kumyss geradezu als ein Nationalgetränk bezeichnen. Andere fermentierte Milchgetränke, deren Heimat vorwiegend der Balkan und der Nahe Osten ist, haben sich in Form von Kefir oder Joghurt auch in der gastronomischen Kultur des Abendlandes einen Platz erobert. Ihre Namen weisen noch auf ihre Herkunft und die Tatsache, dass ihre Gärung vorwiegend durch Milchsäurebakterien geschieht, erklärt, warum sie, im Gegensatz zum Kumyss, so gut wie keinen Alkohol enthalten. Der Alkohol in der der Stutenmilch entsteht u.a. durch Hefen, die – wie unsere Bier- bzw. Weinhefen – den Milchzucker (Laktose) in Kohlensäure und Alkohol (etwa 1-3 Vol.-%) umwandeln. Diese beiden Komponenten tragen ganz wesentlich zum Charakter des Kumyss bei. Sein Geschmack wird als säuerlich, prickelnd und erfrischend beschrieben. Bekannt geworden ist die Beschreibung des Fernsehjournalisten und Autors Gert Ruge (1928-2021): „Kumys, das (sibirische) Nationalgetränk aus vergorener Stutenmilch, das für mich ein bisschen wie Joghurt mit Bier schmeckt, ungewöhnlich, aber ganz angenehm“ (1). Bereits der flämische Mönch Wilhelm von Rubruk (ca. 1210- ca.1270) hat bei seinem Besuch des Großkhans der Mongolen im 13. Jahrhundert (2) Bekanntchaft mit Kumyss gemacht („…hinterlässt einen Geschmack wie Mandelmilch und weckt im Inneren des Menschen ein Wohlbehagen“).
Im ehemaligen Reich des Dschingis Khan, der Mongolei, war besonders der Khormog beliebt, dieses Getränk wird auch heute noch aus einer Art von Rohmilchjoghurt aus Yakmilch („Tarag“) mittels zugesetzter Hefe zur alkoholischen Gärung gebracht, wobei ebenfalls Kohlensäure entsteht. Sein Alkoholgehalt beträgt, wie beim Kumyss zwischen 1,5 und 3 Vol.-%. Die Yakmilch stammt von den Yaks, einer domestizierten Rinderart des asiatischen Hochlandes; sie ist, wegen ihres hohen Karotingehaltes gelblich gefärbt, wegen der Kohlensäure schäumt die gelblich-trübe Flüssigkeit namens Khormog. Wie man in unseren Breitengraden den Wein, kann man auch den Kumyss oder den Khormog zu einer Art Schnaps destillieren. Dieser „Milchbrand“ wird Archi genannt, über seinen Geschmack und sein Aussehen habe ich leider keinerlei Informationen. Im Gegensatz dazu ist in Deutschland aus Stutenmilch hergestellter Kumyss mit einem Alkoholgehalt von 2,5 Vol.-% in manchen Bio-Läden erhältlich.
Die große Verbreitung von Kumyss und ähnlichen Getränken im asiatischen Raum und deren Gebrauch als leichte Rauschmittel wirft die Frage auf ob man in Bezug auf die Kultur des Alkohol- Genußes tatsächlich von einem ursprünglich europäischen Phänomen sprechen kann. Dies muss natürlich verneint werden, aber die Kulturgeschichte des Kumyss und ähnlicher Getränke wirft eine ganz andere Frage auf nämlich, ob wir in Europa mit unseren hochprozentigen Getränken uns den deutlich gesünderen Genuss mit Getränken geringerer Alkoholstärke verbaut haben. Das mag etwas mit der erworbenen Alkoholtoleranz der europäischen Bevölkerung zu tun haben. Unter Alkoholtoleranz versteht man die steigende Unempfindlichkeit des Körpers gegenüber der psychoaktiven Wirkung von Alkohol. Dadurch müssen immer größere Mengen Alkohol getrunken werden, um noch dieselbe Wirkung zu erzielen. Dies kann zu einer Alkoholabhängigkeit führen und entsteht auch tatsächlich durch die chronisch vermehrte Aufnahme von Alkohol. Diese kann durch eine größere Menge oder eine höhere Konzentration von Äthanol (Alkohol) im Getränk erfolgen. Menschen mit erhöhter Alkoholtoleranz weisen trotz hohen Alkoholkonsums kaum beobachtbare Merkmale einer Alkoholvergiftung auf und genau diese Personen sind deshalb abhängigkeitsgefährdet. Nebenbei sei bemerkt, dass alkoholtolerante Menschen selbst nach übermäßigem Konsum Veränderungen ihres Verhaltens erst viel später merken als Außenstehende. Alkohol verändert die Selbstwahrnehmung, was dafür sorgt, dass sich Betrunkene selbst zunächst viel fitter und aufmerksamer fühlen, als sie tatsächlich sind. Auch deswegen ist die Alkoholtoleranz in unseren Breitengraden so problematisch. Probleme die es bei den Kumystrinkenden, asiatischen Steppenvölkern offensichtlich so gut wie nicht gibt.
(1) Ruge Gert, Sibirisches Tagebuch, Begegnungen in einem unbekannten Land, S. 204, Berlin Verlag, Berlin, 1998.
(2) W
Bleiben Sie neugierig …und genußbereit durstig!