Es lohnt sich gelegentlich ohne Absicht und Zweck in Buch-Antiquariaten zu stöbern. So bin ich zu einem kleinen Büchlein gekommen, von dessen Existenz ich durch einen Musikfreund gehört hatte: Alejo Carpentiers „Barockkonzert“. Es handelte sich um eine Lizenzausgabe des Ost-Berliner Verlages „Volk und Welt“ aus dem Jahre 1977. Das 110 Seiten starke Taschenbuch kostete seinerzeit 2,20 (Ost-) Mark. Der Autor Alejo Carpentier gehört zu den einflussreisten südamerikanischen Schriftstellern des sog. „magischen Realismus“. Er wurde 1904 als Sohn eines Franzosen und einer Russin in Havanna geboren. Zweisprachig mit Französisch und Spanisch aufgewachsen, ging er in Havanna und Paris zur Schule, studierte u.a. Literatur und Musikwissenschaften. Später war er Mitarbeiter und Herausgeber verschiedener Zeitungen und Zeitschriften. 1946 verfasste er die Schrift „La música en Cuba“ und avancierte zu einem der führenden Musikwissenschaftler Lateinamerikas. Musik spielte in seinem Leben und in seinen Büchern immer eine große Rolle, so eben auch in einem seiner Alterswerke, der 1976 entstandenen Novelle „Concierto barroco“ (dt. Barockkonzert). Man hat das Gefühl, dass der Autor auch in Sachen Wein kein Kostverächter war, so liest man ganz am Beginn der Geschichte, in der auch viel gebechert wird, Folgendes: „…denn der Wein aus der Kanne, die sie gerade tranken, war, obwohl es spanischer sein sollte, Wein mit Trub, und man schüttelte ihn lieber nicht, denn sie wußte Bescheid, Klistierspritzenwein, Wein, der gut war, sich das damit zu waschen, um es ganz mit den freien Worten zu sagen, die ihr unterhaltsames Vokabular belebte, wenn ihn Herr und Diener auch nur aus Bequemlichkeit hinunterkippten, wenngleich die taten, als wären sie große Weinkenner…“ (Dieses Zitat zeigt auch, dass die Übersetzung leider nicht die wortgewandteste ist).
Die eigentliche Handlung des kleinen Romans ist vielschichtig über mehrere Zeitperioden verteilt. Sie beginnt am Anfang des 18. Jahrhunderts. Ein steinreicher Kaufmann aus Mexiko segelt von seiner Heimat mit seinem schwarzen Diener namens Filomeno nach Europa. Schließlich kommen sie in Venedig an, wo gerade Karneval gefeiert wird. Er begegnet in einer Taverne Antonio Vivaldi und lernt Scarlatti und Händel kennen und schätzen. Von „Georg Friedrich“ bekam Filomeno die Partitur des Oratoriums „Messias“ zum Ansehen und sagte nach deren Studium: „Dieser Sachse gibt sich nicht mit Kleinigkeiten ab.“ Er schlug die Partitur auf „Verdammt! Das nenne ich Trompetenmusik schreiben! Überlassen Sie es mir, damit ich es spielen kann“. Bei einer Ruhepause auf einem Friedhof entdecken die beiden den Grabstein von Igor Strawinsky (der tatsächlich in New York verstorben ist!) und schließlich werden sie Zeugen der Überführung des Leichnams von Richard Wagner aus dem „Palazzo Vendramin-Calergi“ nach Deutschland.
Als Karnevalsverkleidung wählte sich der Kaufmann das Kostüm des mexikanischen Aszteken-Kaisers Montezuma aus. Er erzählt vom Untergang dieses großen Reiches und inspiriert damit den Komponisten Vivaldi zum Schreiben einer Oper über dieses Thema. Gemeinsam gehen sie das Projekt an. Während der Komponist das Märchenhafte der Vergangenheit auf der Bühne wieder entstehen lässt, sieht der Mexikaner in Montezuma eine Zukunftsvision, kann sich aber mit dieser Sichtweise gegenüber dem Musiker nicht durchsetzen. Tatsächlich brachte Vivaldi 1733 in Venedig einen „Motezuma“ zur Aufführung, eine Oper die bis ins Jahr 2002 verschollen geblieben war und unter abenteuerlichen Umständen wiederentdeckt wurde. Enttäuscht vom geistig wenig flexiblen Europa wendet sich der mexikanische Kaufmann ab und verlässt Venedig wieder, diesmal per Eisenbahn in einem Abteil eines „Wagon-Lit Cook“, während sein Diener Filomeno zurückbleibt und bei einem Konzert Louis Armstrongs (1901 – 1971) in Venedig spürt, dass es gerade jenseits des Atlantik enorme musikalische Energie gibt.
Die Beschreibung des üppigen Barock-Lebens mit seiner Musikalität und Sinnlichkeit erinnerte mich vielfach an die Memoiren Giacomo Casanovas (1725 – 1798), der ja auch mehr oder weniger zu dieser Zeit in Venedig ein abenteuerliches Leben führte. Wie könnte es bei Carpentier anders sein als, dass der Schwerpunkt seiner Geschichte wieder im „Real Maravilloso“, dem wunderbaren Wirklichen liegt. Verquickt wird das Ganze mit einem ordentlichen Schuss Surrealismus. Das Buch ist ein Feuerwerk von phantasievollen Ideen und einer sehr dichten Schilderung des barocken Lebens im Venezianischen Karneval. Nach dem letzten Satz des Romans habe ich mir die Augen gerieben und mich gefragt ob das alles so sein konnte wie hier beschrieben, denn es wirkte, trotz seiner offensichtlichen Absurdität so lebensnah und plausibel im Detail. Die Fiktion wurde im Buch zur Realität, zur „magischen Realität“.
Einer der Begründer des Magischen Realismus war tatsächlich Alejo Carpentier, der damit eine lateinamerikanische Literaturrichtung schuf, die im Buch „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez (1927 – 2014) einen weltweit populären Höhepunkt erreichte. Wie im „Barockkonzert“ verschwimmen auch in diesem Roman die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Historische Anachronismen werden geschickt in die Handlung eingebaut und die Geschichte verschmilzt mit der Mythologie. Diese konfliktlose Einbettung des Wunderbaren in den Alltag begeisterte mich beim Lesen des „Barockkonzert“ganz außergewöhnlich.
Bleiben Sie neugierig …und durstig!