Wein und Musik: das sensorische Erinnerungsvermögen

Gerrit van Honthorst 1592-1656): Der fröhliche  Geiger mit einem Weinglas (1624, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid)

Das Zusammenspiel von Geruchs und Geschmackssinn mit dem akustischen Erlebnis der Musik kann große Emotionen erzeugen und gehört für mich zu den absoluten Höhepunkten sinnlicher Erfahrungen. Es ist das Nasen- und Gaumenerlebnis des Weins gepaart mit der Tonkunst klassischer Musik, was mich in seiner Kombination tief bewegen kann. Bei beiden Wahrnehmungen, der gustatorisch-olfaktorischen (Gaumen/Nase) wie bei der akustischen (Gehör), habe ich seit meiner Jugend das Problem eines sehr geringen Langzeit-Erinnerungsvermögens. Es fällt mir nicht schwer meine akuten sinnlichen Eindrücke zu beschreiben, aber in recht absehbarer Zeit nach dem Genuss beider, habe ich die Details der erlebten Empfindungen „vergessen“. Konkret bedeutet dies, dass es mir schwer fällt selbst mehrfach probierte Weine bei einer späteren Gelegenheit wiederzuerkennen und nicht anders geht es mir mit der Musik. Wie ich den „Kirschgarten“ Spätburgunder vom Pfälzer Weingut Knipser eigentlich jederzeit wiedererkennen müsste es mir aber nicht gelingt obwohl ich ihn schon vielfach genossen habe, erkenne ich beim Reinhören die oft gehörte 6te von Mahler auch nicht, selbst nach längeren Taktfolgen. Die Erinnerungsspuren sowohl zum Geschmack und Duft als auch zur Musik haben sich in den Stürmen meines sensorischen Gedächtnisses verwischt. Dies gilt natürlich nur für die „Kunstmusik“ bzw. die komplexere Weinaromatik. Einen bekannten Gassenhauer der Beatles oder den Geschmack von Coca-Cola würde ich vermutlich ohne Schwierigkeiten jederzeit wiedererkennen.

Beide, der Wein und die Musik, vermitteln ihr sinnliches Erleben durch ihre Emotionalität. Wie sich diese Emotionen, unabhängig von ihrem auslösenden Medium, ähneln, lässt vermuten, dass ihr Ursprung von annähernd gleicher Natur ist. In der Wahrnehmung des Liebhabers beider spielt ein Lernprozess eine ganz entscheidende Rolle. Wein und Musik haben einen engen Zusammenhang in der sinnlichen Entwicklungsgeschichte des Menschen: das Verstehen muss erlernt werden, denn weder der Sinn für die geschmackliche bzw. akustische Vielfalt von Wein und Musik sind angeboren.
Ein gerbsäurereicher Bordeaux in der Trinkflasche wird von einem Säugling spontan ebenso vehement abgelehnt, wie das laute Orchesterklopfen am Beginn von Beethovens Fünfter Symphonie Angst und Schrecken erzeugt. Jemand, in dessen Leben Wein eine Nebensache und klassische Musik eine praktisch Unbekannte blieb, wird sich bis ins späte Alter kaum für eines der beiden wirklich begeistern können. Frühe Übung macht den Meister, heißt es. und bei der Musik funktioniert es auch, denn „Wunderkinder“ gibt es bekanntlich. Beim Wein gibt es „Wunderkinder“, Gott sei Dank, nicht, denn der Alkohol weiß dies zu verhindern. Man kann sowohl beim Wein als auch bei der Kunstmusik von „erworbener Genussfähigkeit“ sprechen, was bedeutet, dass erst die eigene Erfahrung, das „Lernen“ die Konsumenten in die Lage versetzt zu verstehen. Im Gegensatz dazu benötigt die „angeborene Genussfähigkeit“ keinerlei vorausgehende Erfahrung, ein süßer Griesbrei und ein harmonisches, mit zarter Stimme vorgetragenes Schlaflied wird schon von den Jüngsten mit Wohlbehagen aufgenommen.

Zwar kann es weder in der Musik noch beim Weingenuss schaden sich in der Theorie auszukennen, aber die allermeisten Weinfreunde und Konzertgänger benutzen für das Verständnis ihrer sinnlichen Erlebnisse sowohl beim Wein als auch bei der Musik nur Metaphern. Mit Metaphern werden sensorische oder auch geistige Regungen in eine Art von Bildersprache übersetzt. In der Weinkritik hat sich auf dieser Basis eine Sprache entwickelt, deren Inhalte manchmal ins Lächerlich-Skurrile geraten (z.B. „Töne von Sattelschweiß“ im Wein!). Bei begeisterter Beschäftigung mit Musik kommt man sehr schnell zu den Fragen nach Idee und Inhalt des gehörten Stückes. Die meisten Komponisten überlassen die Beantwortung dem Zuhörer und der benutzt dann Metaphern zur Beschreibung des Gehörten (z.B. das erwähnte „Pochen des Schicksals an die Pforte“ in Beethovens 5ter Symphonie). Die Nähe von Wein und Musik macht sich auch in der Metapher der „Struktur“ beider bemerkbar. Die Struktur ist ein räumlicher Begriff, der an die Architektur eines Gebäudes erinnert und so ist er auch in unserem Zusammenhang zu verstehen. Während der Musiktheoretiker darunter die sog. „Formenlehre“, die dem Gebäude zugrunde liegt, versteht , reicht es dem Musikfreund meistens über die jeweilige musikalische Gattung des Gehörten (Lied, Symphonie, Serenade, Ouvertüre etc.) Bescheid zu wissen und sie zu beschreiben (z.B. „die Fuge gleicht einem Rosenblatt“). Die räumliche Struktur wird bei der Weinbeschreibung mit den Elementen sauer,  gerbstoffhaltig und extraktreich, gekennzeichnet und zu einem „architektonischen“ Ganzen zusammengeführt. Der berühmte Satz des Musikkritikers Eduard Hanslick (1825 – 1904) „der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen“ ließe sich leicht auf den Wein ummünzen: „der Inhalt des Weins sind am Gaumen bewegte Formen“.

Warum es so schwer ist die bereits einmal geschmeckten bzw. gehörten Metaphern beim Wein- oder Musikgenuss wieder zum Erleben zu bringen, liegt vermutlich nicht an einem fehlenden Langzeitgedächtnis sondern viel eher an der  geringen Reproduzierbarkeit des Geschmacks- bzw. Musikerlebnisses. Die Emotion entsteht erst durch die subjektive Bewertung der gustatorischen oder akustischen Wahrnehmung beim Genuss von Wein oder Musik. Wie ich einen Reiz in ein Gefühl umwandle hängt von sehr vielen, veränderlichen Faktoren ab: Tageszeit, Stimmung, Stresssituation, Entspannung, Wetter, Gegenwart anderer Personen u.v.a. Was ich beim Genuss eines Weines oder dem Anhören eines Musikstückes einmal empfunden habe, kann beim zweiten oder dritten Mal etwas völlig anderes sein und eine unterschiedliche emotionale Bewertung verursachen, die verhindert, dass ich das Ereignis wiedererkenne.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit meiner Texte habe ich, traditionsgemäß, durchgehend die männliche Form gewählt. Die Formulierungen beziehen sich in aller Regel jedoch auf Angehörige aller Geschlechter, die ich durch mein Vorgehen in keiner Weise diskriminieren möchte!

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