Die vergangenen Sommermonate (des Jahres 2018) standen bei mir ganz im Zeichen der Lektüre von Andrea Wulfs grandioser Humboldt-Biografie „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ (C. Bertelsmann, München 2016). Die Autorin hat darin einen Mann porträtiert, in dessen Persönlichkeit sowohl ein ernsthafter Naturwissenschaftler als auch ein reisender Abenteurer mit einer großen Begabung für Poesie verwirklicht war. In seinem kleinen, 1807 erschienenen und seinem großen Bruder Wilhelm gewidmeten Buch mit dem Titel „Ansichten der Natur“ (Nikol Verlag, Hamburg 2018) hat sich Alexander von Humboldt als ein Meister der Naturbeschreibung „geoutet“. Kein Wunder, dass diese vielfach übersetzte Schrift zu einem Bestseller in ganz Europa wurde. Die Erklärung für diese erstaunliche Tatsache hat der Autor selbst geliefert. In den „Ansichten“ versuchte er zu erklären warum die nordischen Völker, also unsere daheimgebliebenen Vorfahren, den Naturgenuss, den die Tropen bieten konnten, nicht hatten und sich deshalb kaum ein Bild von der Üppigkeit der Flora und Fauna dieser Regionen machen konnten. „Aber“, schrieb er „in der Ausbildung unserer Sprache, in der glühenden Phantasie des Dichters, in der darstellenden Kunst der Maler ist eine reiche Quelle des Ersatzes geöffnet. Aus ihr schöpft unsere Einbildungskraft die lebendigen Bilder einer exotischen Natur.
Im kalten Norden, in der öden Heide kann der einsame Mensch sich aneignen, was in den fernsten Erdstrichen erforscht wird, und so in seinem Inneren eine Welt sich schaffen, welche das Werk seines Geistes, frei und unvergänglich wie dieser, ist.“ Dieses leidenschaftliche Bekenntnis zur Kunst hat dem Universalgelehrten Humboldt in breiten Schichten der Bevölkerung viel Anerkennung und Sympathie eingebracht. „Verführerisch“ nannte Goethe den Text der „Ansichten“ seines bewunderten Freundes.
In der Abgeschiedenheit der Bergwelt der andalusischen Alpujarras habe ich die erwähnte Humboldt-Biografie gelesen. Wie Andrea Wulf mehrfach betont, stand im Mittelpunkt von Humboldts wissenschaftlichem Denken die Einheit der Natur, die ich in ihrer vollen Schönheit in diesen Tagen ebenfalls täglich vor mir sah. Bei Humboldts Naturbetrachtung trifft objektive Erkenntnis auf subjektive Emotion, denn er hat das Vorhandensein dieser Einheit nicht nur wissenschaftlich begründet und für die Nachwelt aufgezeichnet sondern sie auch zutiefst gefühlt und innerlich erlebt. Alle Kräfte der Natur bündeln sich zu einem übergeordneten Ganzen in dem auch wir Menschen uns bewegen und unseren Anteil haben, für dessen Erhalt wir Verantwortung tragen. Die Menschen haben kein Recht ihren Lebensraum zu zerstören, denn er gehört ihnen nicht alleine. Diese Erkenntnisse sind die Grundlage eines ökologischen Bewusstseins in dem der Respekt vor der Natur und die Nachhaltigkeit im Umgang mit ihr ein kategorischer Imperativ sind. Heute fassen wir das alles unter dem Begriff der „Ökologie“ zusammen und verstehen damit nichts anderes als das, was Humboldt vorformuliert hatte: den Gesamthaushalt der uns umgebenden Natur.
Alexander von Humboldt hatte einen unbezähmbaren Drang zu reisen und ferne Länder kennen zu lernen. „Der Reisende genießt zum voraus die Freude des Augenblickes, wo er das Sternbild des Kreuzes und die Magellanischen Wolken, die um den Südpol kreisen, wo er den Schnee des Chimborazo und die Rauchsäule der Vulkane von Quito, wo er ein Gebüsch baumartiger Farren, wo er den Stillen Ozean zuerst erblicken wird. Tage der Erfüllung solcher Wünsche sind Lebensepochen von unverlöschlichem Eindruck: Gefühle erregend, deren Lebendigkeit keiner vernünftelnden Rechtfertigung bedarf.“ Dies schrieb er in den „Ansichten“ und jeder, der die Sehnsucht nach der Ferne kennt, kann die Zeilen Humboldts gut nachvollziehen. Er war bereits an den von ihm genannten Orten gewesen, aber es zog ihn sein ganzes Leben immer wieder dorthin, trotz aller Widrigkeiten, die in jenen Tagen dem Reisenden widerfahren konnten. Schiffsreisen waren zeitlich nicht kalkulierbar, wenn die Winde nicht stimmten oder Flaute herrschte war der Reiseplan nicht einzuhalten und bei einem Unwetter auf See konnte man seines Überlebens nicht sicher sein. Diese Risiken mussten die passionierten Reisenden am Beginn des 19. Jahrhunderts eingehen. Ganz anders ist es heute: die Perfektion des Massentourismus trägt wesentlich dazu bei, dass das vielbeschworene ökologische Gleichgewicht auf unserer Erde langsam aber sicher zerstört wird. Humboldt hätte das in seiner gegenwärtigen Ausprägung mit Mega-Kreuzfahrtschiffen und Billifliegern ganz entschieden verurteilt. Da bin ich mir sehr sicher!