Die gemalte Darstellung lebloser Gegenstände wird in der Kunstgeschichte „Stillleben“ genannt. Die französische Sprache drückt es expliziter aus und nennt die Bilder „nature morte“. Die Spanier haben sich den Begriff „Bodegón“ geschaffen und verweisen damit direkt auf den Inhalt der Gemälde. Das lateinische “apotheca” bedeutete nämlich “Speicher” (auch Vorratskammer) und ist damit u.a. auch die Wurzel des deutschen Begriffs “Apotheke” (Speicher von Arzneistoffen) und des spanischen „bodega“ (siehe auch „Was hat die Apotheke mit dem Wein zu tun?“). Entsprechend sind Gegenstände aus den Vorratskammern oder ihrer Umgebung auf den spanischen „bodegónes“ zu sehen. Aber nicht nur leblose Dinge sondern auch Menschen sind dort häufig abgebildet und stellen so etwas wie eine Rahmenhandlung für das Bild dar. Die großen Vorbilder für die spanischen Maler stammten aus den Niederlanden. Dort erlebten die stilleven (holländisch: stil = unbewegt und leven = Leben) mit dem Beginn des Barock eine ungeahnte künstlerische Blüte. Da sich als Folge des Spanisch-Niederländischen Krieges (1568-1648) nur die protestantischen, holländischen Nordprovinzen von Spanien lösten, der katholische Süden aber weiterhin im Verbund der Habsburger Krone verblieb, war der künstlerische Kontakt zwischen den beiden Regionen unverändert intensiv.
Während bei den Niederländern die sog. Vanitasstilleben sehr beliebt waren, Bilder mit tiefer Endlichkeitssymbolik, wie z.B. das 1630 fertiggstellte „Stilleben mit Totenkopf, Folianten, Taschenuhr und erloschener Öllampe“ des Pieter Claesz, waren es im spanischen Raum eher Alltagsszenen der weniger Begüterten, die im ästhetischen Brennpunkt standen. Eines der berührendsten „bodegónes“ dieser Art ist der „Christus im Hause von Maria und Martha“, ein Ölgemälde aus dem Jahre 1618 von Diego Velázquez (1599 – 1660). Es befindet sich in der Londoner National Gallery und verbindet in genialer Weise eine Küchenszene mit einer Geschichte aus dem Lukas-Evangelium der Bibel. Von den beiden Schwestern ist die eine um das leibliche Wohl von Jesus bemüht, sie kocht für ihn, während die andere ihm konzentriert zuhört. Die Geschichte wird häufig als Kontrast einer vita activa (Köchin) zu einer vita contemplativa (Zuhörerin) gedeutet. Im Vordergrund der Darstellung sieht man eine junge Frau, die im Mörser Knoblauch zerdrückt und dabei von einer älteren angewiesen wird. Auch hier offenbart sich das gleiche Motiv: die aktive, tatkräftige Köchin und die contemplative, korrigierende Lehrerin. Neben den beiden steht auf dem Küchentisch ein Teller mit vier silbrig glänzenden Fischen. Zwei schneeweiße Eier liegen daneben. Als weitere Essenszutat erkennt man neben dem Knoblauch eine getrocknete Pfefferschote. Dieses, in dunkelbraunen Tönen gehaltene Bild, ist für mich wie eine gastronomische Zusammenfassung Spaniens: Überaus einfach, ja beinahe karg, das Essen, aber würzig und mit viel Liebe zubereitet. Die biblische Szene, die dem Bild den Namen gegeben hat, erscheint eher nebensächlich zu sein. Man erkennt sie im Hintergrund durch eine Art Fenster im Nebenzimmer.
Was für ein Kontrast stellt dieses sympathische Bild zu den barocken Prunkstilleben der Niederländer dar! In Jan Davidzs de Heems 1660 gemaltem “Stilleben mit Papagei“ erkennt man neben allerlei Früchten, wie Weintrauben, Pfirsichen und Granatäpfeln auch Schinken und einen Zinnteller mit Austern und Zitrone sowie ein mit Weißwein gefülltes Noppenglas. Das Ganze wird verziert durch eine liegende Blockflöte und den bunten Papagei. Die verschwenderische Fülle und Farbenpracht dieses Bildes nimmt sich gegenüber der Darstellung von Velazquez beinahe wie eine Karikatur aus und lässt im Hintergrund die Gesellschaftskritik des holländischen Malers durchschimmern. Derartig sozialkritische Inhalte gab es bei den spanischen Malern nicht. Bei den „bogegónes“ so großer Künstler wie Francisco de Zurbarán, Felipe Ramirez oder (später) Francisco de Goya lag der Schwerpunkt – wie beim oben beschriebenen Bild des Diego Velazques – auf der erfühlbaren Sinnlichkeit der Darstellung.
Für jeden geschichtsinteressierten Gastrosophen lohnt es, sich in das Genre der Stilleben zu vertiefen. Nirgends bekommen wir eine detailgetreueres Abbild der Ess- und Trinkgewohnheiten vergangener Generationen als in diesen Juwelen der europäischen Kunstgeschichte. Natürlich wurden dabei die essbaren Objekte auf den Bildern nicht immer nach ihrer geschmacklichen Harmonie zusammengefügt, vielfach waren es ästhetische Gründe für die jeweiligen Kombinationen bei der Motivauswahl. Auch aus handelsgeschichtlichen Erwägungen sind diese Bilder von großem Wert, denn sie zeigen, wie intensiv der Austausch von Delikatessen zwischen dem Norden und dem Süden unseres Kontinents bereits im Zeitalter des Barock war!