Seit der Änderung der Zahlungsmodalitäten für das Öffentlich Rechtliche Fernsehen wurde viel gelästert über die seichten Unterhaltungsinhalte des Showgewerbes auf den Bildschirmen und die Blutlachen, die man durchqueren musste um in den Sektionssaal der Pathologie zu gelangen, wo man das letzte Geheimnis des Krimis erfuhr. Ist das den monatlichen Pflichtbeitrag, den jeder Bürger zu entrichten hat, tatsächlich wert? Das natürlich nicht – denn das kann man auf den Privatsendern zur Genüge gratis haben. Aber es gibt auch anderes im Fernsehen, was mit Geld kaum aufzuwiegen ist. Dabei rede ich von meinen beiden Favoriten-Sendern „arte“ und „3sat“. Ich muss den beteiligten europäischen Fernsehanstalten höchstes Lob für ihre Programmgestaltung aussprechen: hier werde ich häufig Zeuge des gegenwärtigen, hochrangigen europäischen Kulturschaffens und ziehe daraus eine enorme Befriedigung und gelegentlich auch Begeisterung, wie kürzlich, am 26.08.2017 auf „arte“, bei der Aufzeichnung des „Nabucco“ von Verdi aus der Arena von Verona. Die Neuinszenierung des gebürtigen Strassburgers Armand Bernard, als Regisseur tätig in der ganzen Welt, war für sich genommen, denke ich, ein kleines Meisterwerk.
Verdis historischer Nabucco-Stoff von der Befreiung der Hebräer aus der babylonischen Gefangenschaft und die Geschichte des tyrannischen Königs Nebukadnezar wurde schon zu Lebzeiten des Komponisten mit dem erfolgreichen Widerstand der Mailänder Bürger gegen den österreichischen Feldmarschall Radetzky am Anfang der italienischen Befreiungskriege, in Verbindung gebracht. Kein Wunder, dass Bernard die Handlung von Babylonien vor und in die Mailänder Scala des Jahres 1848 verlegte. In eben diesem Theater erfuhr 1842 der „Nabucco“ seine Uraufführung. Im musikalischen Zentrum der Oper steht am Ende des 3. Aktes der „Gefangenenchor“. Der Mimik des israelischen Dirigenten Daniel Oren konnte man unschwer entnehmen, dass ihm die Musik, in der ja die Freiheit seines eigenen Volkes vertont ist, sehr nahe ging.
Dieses Chorstück ist eines der großen Meisterwerke der Opernkunst, ja vermutlich der gesamten Chormusik. In seiner Außenwirkung vielleicht nur vergleichbar mit Beethovens „Ode an die Freude“ aus dessen 9. Symphonie. „Va, pensiero sull´ali dorate“ (Flieg Gedanke auf goldenen Schwingen) wurde zur heimlichen Nationalhymne der Italiener, so wie „Freude schöner Götterfunke“ zur offiziellen Europa-Hymne gekürt wurde. Die wundervolle Musik Verdis in diesem Chor kommt zunächst ganz bescheiden, dann immer mächtiger und kämpferischer herüber, besingt die Ufer des Jordan und die Türme Zions um in wehmütiger Sehnsucht nach dem gelobten Land zu enden. Mit einem grandiosen Regie-Einfall lässt Bernard das Stück gleich zwei Mal hintereinander in voller Länge singen und gibt ihm damit die Bedeutung, die es in dieser Oper tatsächlich hat, und der Dirigent dankt es ihm, während auf der Bühne ein Transparent mit der Aufschrift „Viva Verdi“ aufgerollt wird. Das traf zweifellos des Pudels Kern!
Nicht zu allen Zeiten sprach man vom „Gassenhauer“ sehr positiv. Gemeint waren damit häufig sentimentale Lieder von eher volkstümlichem Charakter, die all zu oft die Anmutung von enormer Trivialität besaßen. Vermutlich wurden sie von den „Gassenläufern“, den herumschlendernden Nichtstuern und Bettlern (also jenen, die mit ihren Absätzen die Gassen hauten), gesungen. Schon vor der Romantik entwickelten sich beliebte Opernarien und –chöre zu Gassenhauern, wobei eine schier unerschöpfliche Quelle die Musik Mozarts war. Er selbst parodierte diesen Zustand im „Don Giovanni“ wo er als Tafelmusik die Töne der berühmten Arie „Non più andrai“ aus seinem Figaro aufspielen ließ. Dieses Lied war im ausgehenden 18. Jahrhundert – auch nach heutigen Standards – ein regelrechter „Schlager“. Die Liste der popularisierten „Klassiker“ ist unendlich lang und reicht heute vom Habanera der Carmen (Bizet) über „Nesssun Dorma“ (Pucchini) bis zu „La donna é mobile“ aus Verdis Rigoletto. Aber auch Instrumentalmusik ereilte gelegentlich das gleiche Schicksal, man denke an die geniale „Kleine Nachtmusik“, Liszts „Liebestraum“ oder Beethovens Schicksalsklopfer am Beginn der 5. Symphonie. Wenn wir heute diese und ähnliche Musik beschreiben würden, würden wir sie verharmlosend einen „Evergreen“ oder schlichtweg einen „Ohrwurm“ nennen.
Gehört der Gefangenenchor aus Nabucco auch zu den Gassenhauern und wenn ja, wertet ihn das ab? Der erste Teil der Frage ist so selbstverständlich mit ja zu beantworten wie der zweite Teil mit nein. Gerade an diesem Stück Musik offenbart sich die ganze emotionale Kraft der Töne. Das hatte Regisseur Armand Bernard hellsichtig erkannt. Der Gefangenenchor aus Nabucco wurde in der Vergangenheit auf politischen Kundgebungen rund um die Welt und auch in Konzentratioslagern gesungen und immer wenn der Ohrwurm ertönte verbreitete er unter Sängern und deren Zuhörern ein großes Gemeinsamkeitsgefühl – die Gedanken aller flogen in ihr jeweiliges, individuelles Zion und an ihren persönlichen Jordan. Was kann ein Komponist mehr von seiner Musik verlangen? Dank sei dem Sender „arte“ geschuldet für dieses schöne Erlebnis !