Schon in meiner Münchener Studentenzeit hat es mich in den Sommermonaten immer wieder nach Nymphenburg in den Schlosspark gezogen. Vor der Amalienburg konnte ich stundenlang auf dem Rasen sitzen und die wunderschöne Rokoko-Fassade auf mich wirken lassen und neben mir lagen die trockenen medizinischen Lehrbücher im Gras, die ich dann keines Blickes mehr würdigen wollte. Ich glaubte der Musik Mozarts näher als irgendwo anders auf der Welt zu sein. Das Dämonische in den Tönen des Salzburger Meisters konnte ich damals allerdings noch nicht begreifen.
Jahrzehnte später, genauer gesagt, vor ein paar Tagen, sah ich die wunderschöne Ausstellung „gefährliche Liebschaften – die Kunst des französischen Rokoko“ im Liebieghaus am Museumsufer in Frankfurt/Main. Hier waren Skulpturen, Bilder und Gebrauchsgegenstände dieser Epoche zusammengetragen worden, die die von mir so geliebte Zeit unserer Kunst- und Kulturgeschichte wieder auferstehen ließen. Mit den üppigen Exponaten aus vielen großen Museen Europas zog mich, den empfindsamen Betrachter, die Ausstellung in ihren Bann. Die weißen Porzellan- und Marmorfiguren, die Gemälde und Kupferstiche sowie die spielerischen Möbel und Wandspiegel stellten eine Huldigung an die Unbeschwertheit, die Liebe und die feinsinnige Erotik dieser Epoche dar. Man muss die Geschichte mit ihren Kriegen und sozialen Spannungen nicht bemühen um zu ahnen, dass Maler wie Boucher und Watteau oder Bildhauer wie Falconet oder Bachelier nur die halbe Wahrheit dargestellt haben. Ihr von holden Schäferinnen bevölkertes, mythisches Arkadien gab es damals so wenig wie heute. Aber es war ein Traum, den sich eine höfische Gesellschaft leistete und den wir im 21. Jahrhundert immer noch nachempfinden und dabei Freude haben können.
Ich habe erst kürzlich an dieser Stelle über das Lustprinzip geschrieben und musste jetzt feststellen, dass unsere Vorfahren im Rokoko diesem bereits ebenso intensiv gehuldigt haben wie wir es in unseren Tagen tun. Dabei spielte der Themenkreis Wein und Erotik eine mindestens ebenso große Rolle wie noch heute. In der Literatur gab es die verspielte Anakreontik mit ihrer lebensbejahenden Vergötterung der Freundschaft und Liebe sowie den sehnsuchtsvollen, arkadischen Landschaften mit ihren engen Bezügen zum Weingenuss. Goethe und Lessing gehörten zeitweise zu dieser Bewegung. Die Götter Dionysos und Bacchus huldigen Eros und Amor, während in den Kunstwerken junge Frauen in luftigen Gewändern auf einer Schaukel das Leben genießen oder schöne marmorne Körper einen leidenschaftlichen Kuss austauschen.
Aber Vorsicht! Nach einem Besuch der Ausstellung kann es sein, dass man das Eine oder das Andere in unserer heutigen Zeit beginnt mit emotionalem Vorbehalt zu sehen. Die ubuiquitäre, multimediale und allzu häufig auch sehr explizite Erotik – oft als Sex missverstanden – der Internet-Generation wirkt schroff und gewaltsam im Vergleich zur Galanterie des 18. Jahrhunderts. Der feine Pinselstrich wurde durch alberne „smileys“ ersetzt und die werden um den Globus gesimst (dabei wird vergessen, dass das Wort smiley vom englischen „to smile“, lächeln, kommt. Nur dazu ist einem angesichts dieser plumpen Symbole meist nicht zumute). Duftende und versiegelte Liebesbriefe sind zu e-mails degradiert worden, die unnützerweise auch noch weltweit von in- und ausländischen Geheimdiensten gelesen werden könnten. Ich will nicht den Eindruck erwecken, ich sei ein Kulturpessimist. Nein, im Gegenteil, die Möglichkeit sich heute in der Ausstellung „gefährliche Liebschaften“ in die Rokoko-Zeit versetzen zu können zeigt meines Erachtens, dass auch unsere Kultur quicklebendig und erlebenswert ist.