Kurz vor Sylvester haben wir seit langer Zeit einmal wieder Schnee in Frankfurt erlebt. Ein Blick hinaus auf die einsame, nächtliche Straße ließ in mir Erinnerungen an eine jener seltenen Winternächte in den Alpujarra-Bergen, im tiefen Süden Spaniens, aufsteigen. Damals hatte es am vorausgegangenen Tag geschneit und als am Abend dann die Sonne im Westen hinter den Bergen untergegangen war erschien der Vollmond auf der gegenüberliegenden Seite des Tales. Im weiteren Verlauf der Nacht erfüllte sich das Land mit einem silbrig glänzenden, vom Schnee kalt und grell reflektierten Licht und ließ die mir so bekannte Landschaft gespenstisch unwirklich erscheinen. So hatte ich sie noch nie gesehen, die sanften Hügel waren aus poliertem Platin und die vertrauten Perspektiven hatten sich völlig verschoben. Was war das für eine wundervolle Winternacht!
Damals kam mir Rainer Maria Rilkes (1875-1926) schönes Wintergedicht bei diesem Anblick in den Sinn:
Es gibt so wunderweiße Nächte,
drin alle Dinge Silber sind.
Da schimmert mancher Stern so lind,
als ob er fromme Hirten brächte
zu einem neuen Jesuskind.
Weit wie mit dichtem Diamantstaube bestreut,
erscheinen Flur und Flut,
und in die Herzen, traumgemut,
steigt ein kapellenloser Glaube,
der leise seine Wunder tut.
Rilke beschreibt hier die nächtlich glitzernden Farbempfindungen in der Winterlandschaft als weißen und silbrigen Diamantenstaub. Ein Stern, gleich dem von Bethlehem, vermittelt die Illusion von den Hirten der Weihnachtsgeschichte, die auf dem Weg zu einem neuen Jesuskind sind. Die alte vertraut-gemütliche Krippe hat ausgedient, eine neue Religion wird geboren. Es ist ein Glauben an die Kraft und Schönheit der Natur, der ohne Tempel oder Kapellen auskommt und trotzdem lautlos Wunder vollbringen kann. Mir erscheinen Rilkes zehn Zeilen wie ein pantheistisches Glaubensbekenntnis. Ich liebe diese Sprache und ihren Inhalt, denn so habe ich die Welt in verschneiten Nächten auch schon viele Male empfunden.
Damit mein Exkurs in die Poesie nicht nur „traumgemut“ bleibt sondern auch einen Bezug zur Realität bekommt, möchte ich nur noch sagen, dass ich an jenem Frankfurter Winterabend eine Flasche des Cerro de la Retama 2010 geöffnet hatte und das Terroir genau jener Landschaft am Gaumen verspürte, in der ich die anfangs erwähnte, südliche Schneenacht erlebt habe.