Spätes Gedenken: Jane Birkin

Ein erotischer Hit, der mein Leben umkrempelte

Ich hatte mir im Internet ein antiquarisches Taschenbuch bestellt und als es schließlich kam fand ich es in einem Umschlag vor, zusätzlich stoßsicher eingewickelt in die Seiten einer alten Tageszeitung . Gerade wollte ich den Verpackungsmüll in den Papierkorb verfrachten, da fiel mein Blick auf eine kleine Überschrift auf einer Zeitungsseite: „Jane Birkin gestorben“. Warum erfahre ich dies erst jetzt und nur rein zufällig, war diese Sängerin nicht eines der ganz großen Idole meiner Jugend? „Je t’aime, moi non plus“ war eine der intimen Hymnen in meiner sexuellen Befreiung. Die gestöhnte Lust der jungen Engländerin und die ermunternd gehauchten Worte Ihres Lebensgefährten Serge Gainsbourg waren für mich einer der Schlüssel in die sinnliche Welt des Sex. Es mag das Weihnachsfest 1970 gewesen sein als sich die gesamte Familie auf dem Landsitz meiner Großeltern versammelte, um die „stille und heilige Nacht“ gemeinsam zu begehen. Ich hatte die Platte von Jane Birkin mitgebracht und war mir sicher, dass sie begeistert aufgenommen würde. Bei meinen beiden fast gleichaltrigen Vettern war dies auch so: sie verstanden sofort die Botschaft und begeisterten sich für die Musik und den Text.

Ganz anders reagierte mein Onkel: nach dem ersten, sinnlichen Stöhnen schrie er ich solle diesen Schrott sofort abstellen und die Platte in den Mülleimer werfen. Meine Tante und meine Eltern pflichteten ihm bei und warfen mit Worten wie „unanständig“, „pornographisch“, „vulgär“, oder „schweinisch“ um sich. Lediglich mein Großvater schien wirklich Interesse zu bekunden und meinte man solle doch wenigstens zulassen, die Platte bis zum Ende zu spielen. Da dämmerte mir, dass ich mit dem akustischen Hinweis auf die körperliche Liebe bei meiner Familie in ein Wespennest getreten hatte. Die heftigen Reaktionen bedeuteten mir, dass dieses Thema mit keinerlei Akzeptanz rechnen konnte und sehr deutlich spürte ich um mich herum jenen bürgerlichen Mief, der die Sexualität ständig umgab. Meine Begeisterung für das Lied von Jane Birkin und Serge Gainsbourg stieg noch ein paar Stufen höher! Dagegen konnten die glitzernden Lichter und die weihnachtlichen Töne im Hause nichts mehr ausrichten und ich erinnere mich noch sehr lebendig an die bittere emotionale Enttäuschung, die Dank meiner gerade geschilderten Erkenntnis, über diesem ganzen Weihnachten lag und nicht mehr weichen wollte. Ich wusste jetzt, dass ich die Vorbilder für mein Sexualleben auf keinen Fall in meiner Familie finden würde und, dass ich mich in diesem Themenfeld anders orientieren musste. Allerdings für meinen offenbar liberaleren Großvater blieb nach diesen Erlebnissen ein Stück Bewunderung übrig – die Einstellung zur Sexualität hatte also nichts mit dem Lebensalter zu tun!

Nachdem ich die Todesnachricht von Jane Birkin eher zufällig zu lesen bekam habe ich mich auf den Weg einer weiteren Recherche begeben und bin dabei auf eine ganz erstaunliche Nachricht gestoßen: nämlich wie die Töchter, Charlotte und Lou, der verstorbenen 76-jährigen Sängerin über die letzte Stunden ihrer Leukämiekranken Mutter berichteten, habe diese den deutlichen Wunsch gehabt endlich mal wieder einen Abend alleine in ihrer Pariser Wohnung zu sein und sie hat Angehörige und Krankenpflegerinnen fortgeschickt. Am nächsten Tag, Sonntag den 16. Juni 2023 hat man sie dann tot aufgefunden, sie hatte also ihre letzten Lebensstunden, als hätte sie ihr Ende in dieser Nacht geahnt, bewusst ganz alleine verbracht. Auch dieses Verhalten ist so anders als wir es im Sinne von normal betrachten, wenn wir nämlich glauben in der Todesstunde brauche man tröstende Gesellschaft. Die katholische Kirche stellt dazu ihre Pfarrer für das Totenbett der oder des Sterbenden ab und Angehörige kommen in Scharen  um die letzten Worte zu erhaschen. Die einen hoffen auf einen Hinweis des rechten Glaubens, die anderen wohl auf einen Hinweis für eine Erbschaft. Vermutlich sind es tatsächlich vorwiegend utilitaristische Motive, die zum teilen der Todesstunde verleiten. Im Tierreicht gibt es so etwas nicht. Ein Hund, eine Maus oder eine Biene verzieht sich zum Sterben in eine Ecke, wo sie unsichtbar und alleine ist. Wäre das nicht auch eine adäquate Verhaltensweise für den sterbendes Menschen, der dann ungestört sein Leben noch einmal betrachten könnte? Hans Fallada hat dies in einen plakativen Buchtitel zusammengefasst: „Jeder stirbt für sich allein“. Ich glaube, der Wunsch von Jane Birkin lässt dies auch stark vermuten. Dies ist aber, wie das öffentliche Stöhnen bei sexueller Erregung, so entschieden gegen die gesellschaftliche Konvention, dass sich niemand traut dagegen zu opponieren.

In der Erinnerung an Jane Birkin ist mir ihre Rolle in Michelangelo Antonionis Film „Blow Up“ noch gegenwärtig. Dieser Film, erzählt die Geschichte eines Londoner Modefotographen, der in eine Kriminalgeschichte verwickelt wird, und war für mich der komplette Ausdruck des damaligen Zeitgeistes, den ich selbst völlig internalisiert hatte. Der Film ist heute einer der Klassiker der Filmgeschichte. Mir erschien Jane Birkin immer eine bescheidene Frau mit höchstem künstlerischen Ansprüchen gewesen zu sein und ihr Tod verdient weit mehr Empathie als nur ein kurzes Gedenken.

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