Edvard Grieg – Musik und Landschaft

Blick von Troldhaugen in nördlicher Richtung

Wir sitzen auf dem Deck eines kleinen Passagierschiffes und fahren von Ålesund durch die Buchten und breiten Fjorde an der norwegischen Küste und biegen schließlich in den schmalen Geirangerfjord ab. Die Kulisse wird dramatisch: hohe, beinahe senkrecht in die Höhe steigende Felswände säumen unseren Weg durch das Wasser. Ich stelle den offiziellen Touristenführer im Kopfhörer ab und suche mir in einem Streamingdienst Griegs Klavierkonzert. Da ist es: ein ganz leise beginnender Paukenwirbel schwillt schnell zu einem explosionsartigen Höhepunkt den das Klavier mit im fortissimo abstürzenden Akkorden unterbricht und mir die gewaltige Landschaft in der ich mich gerade befinde, bewusst macht. Die Holzbläser stellen das Hauptthema des ersten Satzes vor und ich erkenne im Zusammenspiel von Klavier und Orchester die Wasserfälle mit ihren im Sonnenlicht glitzernden Schleiern aus Sprühwasser, die grünen Büsche an den Steilwänden, die weißen Schaumkronen auf dem Wasser und die Schneereste oben auf den Bergen. Später im zweiten, Adagio bezeichneten, Satz spielen die Streicher eine wunderbar eingängige, verträumte Melodie, die vom Klavier aufgegriffen wird und meinen Blick in den blauen Himmel richtet. Das helle Stahlblau steht im Kontrast zu dem schattigen und kühlen Fjord-Ambiente, durch das unser Boot steuert.  Die Gedanken verlieren sich in der Unendlichkeit des Raumes, bis Klavier und Orchester im Dialog sie energisch zurück auf das Schiff bringen. Anschließend gehen wir musikalisch wieder an Land, in ein Dorf, wo die Leute feiern und tanzen. Zu Beginn des dritten Satzes sind die Anklänge an den „Halling“, einem norwegischen Springtanz deutlich zu hören. Danach wird es wieder still und der Duft einer Sommerwiese breitet sich aus. Dann wird der Tanz erneut aufgenommen und mit Kraft und Energie zu Ende gebracht.

Auf dieser Bootsfahrt sind Musik und Landschaft für mich eine ganz innige Verbindung eingegangen und ich war geneigt Edvard Grieg für einen Tonmaler zu halten, der die norwegische Natur sehr präzise und besonders scharf in Tönen zu charakterisieren vermochte. Einige Zeit später habe ich zuhause Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-dur gehört. Und, oh Wunder, Norwegens Landschaft erschien wieder in meinem Kopf! Die enorme Zartheit der Empfindungen und die feurige Kraft dieser großartigen Musik Beethovens, hat – obwohl sie so ganz anders ist – die gleichen Naturbilder wie Griegs Musik entstehen lassen. Im Rondo bezeichneten Schlusssatz bringt Beethoven auch ein Tanz- bzw. ein Marschthema, welches das Konzert, wie bei Grieg, in einer freudig-heiteren Stimmung beendet. Beide Klavierkonzerte sind als absolute Musik komponiert worden und weit entfernt von einem musikalischen Programm. Die positiven Emotionen, die durch die Musik freigesetzt werden suchen sich offenbar bei jedem Menschen ein individuelles psychisches Korrelat und sehr häufig sind dies, wenigstens bei mir, Bilder aus der Natur. Was bedeutet es, wenn in der einschlägigen Literatur behauptet wird, dass Grieg der Inbegriff norwegischer Musik sei? Ich glaube nicht, dass es die musikalische Beschreibung des Landes an sich ist, sondern es sind wohl vielmehr die Anleihen an der norwegischen Volksmusik, die Grieg zu einem nationalen Musiker gemacht haben.

Konzertraum im Grieg-Museum mit Naturnähe

Was ist Volksmusik? Sie bezeichnet, im Gegensatz zur Kunstmusik, das musikalische Kulturgut eines Landes oder einer geographischen Region, welches in Liedern der Landessprache und in traditionellen Melodien bzw. Tänzen Ausdruck findet. Volksmusik kann man singen oder instrumental vortragen, während Tänze von den Darstellern häufig in den typischen Trachten vorgeführt werden. Grieg hat sich in seinen Kompositionen tatsächlich immer wieder dieser Mittel bedient, so z.B. mit dem erwähnten Springtanz im letzten Satz seines Klavierkonzertes. Damit und mit unzähligen der Volksmusik entlehnten Tänzen und Romanzen hat er der norwegischen Volksamusik ein Denkmal gesetzt. Ansonsten aber war er ein Romantiker wie seine großen Vorbilder Robert Schumann und Peter Tschaikowsky. Dieser romantische Geist, und nicht die Referenz an Norwegen, hat seiner Musik den internationalen Durchbruch gebracht und sie zum Repertoire fast aller großen Orchester hinzugefügt.

Neben der Referenz an die norwegische Volksmusik hat sich Grieg auch mit der naturbeschreibenden Programmmusik intensiv beschäftigt. In Titeln „Herbst“, „Klingende Glocken“, „Melancholie“ oder „Morgenstimmung“ und anderen Stücken aus den Peer Gynt Suiten hat er Klänge der Natur seines Landes nachgezeichnet. In manchen Passagen ist er dabei neue Wege gegangen und wurde so zum entfernten Vorboten von Strawinsky und dem musikalischen Expressionismus, obwohl er letztlich nie seine eigene, subjektive und romanische Musiksprache verleugnete. Richtig kennen lernte ich Edvard Grieg bei einem Besuch seines Wohnhauses Troldhaugen südlich seiner Geburtsstadt Bergen. Dorthin zog er 1885 mit seiner Frau Nina Hagerup, auch einer Musikerin, und fand in der Einsamkeit der schönen umgebenden Landschaft offenbar ausreichend Inspiration für seine Kunst. Heute ist dort auch das Grieg-Museum untergebracht. Ähnlich wie Finland durch Jean Sibelius hat sich mir Norwegen zu einem großen Teil durch die Bekanntschaft mit der Musik Edvard Griegs erschlossen. Anders als den schwermütigen Sibelius habe ich Grieg als einen fröhlichen und sozial aufgeschlossenen Komponisten erlebt und mich sofort für seine, z. T. auch humorvolle, Musik begeistert.

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