Die Sonne steht tief im Westen über den Bergkuppen, ihr Licht lässt die Landschaft mit ihren Mandel- und Olivenbäumen golden aufleuchten, ich sitze auf der Terrasse und denke mir, dass es Zeit für einen Gin-Tonic wäre. Genüsslich bereite ich mir das Glas mit Eis und einer Limettenscheibe vor, schütte reichlich Gin dazu und fülle das Ganze mit sehr kaltem Tonic Wasser auf. Bereits der erste Schluck nimmt die angestaute Hitze des Tages aus den Gliedern und ein wohliges Gefühl macht sich breit. Was ich hier tue ist nicht der spezielle Genuss meiner Person sondern eine weit verbreitete Mode der Hedonisten in aller Welt. Um dem Geschmacksbedürfnis der unterschiedlichen Genießer-Soziologien Rechnung zu tragen sind im letzten Jahrzehnt unendlich viele Gin-Marken erschienen, die neben dem klassischen Wacholder lokale Kräuter und Gewürze enthalten. Ja, sogar die Kräuter der Frankfurter „grünen Soße“ sind im Gin verarbeitet worden! Eine ganz ähnliche Entwicklung hat bei den Tonic-Wässern stattgefunden: manche sind gefärbt, andere enthalten zusätzlich zum Chinin verschiedene, weitere Aromen, so dass es eine schier unüberschaubare Kombinationsmöglichkeit zwischen Gin- und Tonic Geschmacksnuancen gibt. Diese unendliche Vielfalt und die Manie das gefüllte Glas mit allerlei kitschigem Schnick-Schnack zu versehen haben das traditionsreiche Getränk ein wenig diskreditiert und sein Aussehen gelegentlich zu einer Art von Micky-Mouse-Drink herabgewürdigt, Ich persönlich halte fest an den Klassikern Tanqueray Gin und Schweppes Indian Tonic Water. Damit ist schon die „Queen Mum“, die Mutter der gerade verstorbenen englischen Königin Elisabeth II., 101 Jahre alt geworden!
Von Miami bis Patong Beach im thailändischen Phuket und von Sylt bis ins andalusische Marbella ergötzen sich die Urlauber an den Sommerabenden am Meerblick und am Gin Tonic. Man könnte ironisch mittlerweile von einer Gin and Tonic-Pandemie sprechen. Nicht ironisch gemeint war allerdings der Begriff „Gin-Epidemie“ im 17. Jahrhundert in England. Dorthin brachte der holländische Prinz Wilhelm von Oranien-Nassau den „Genever“ seiner Heimat, als er 1689 den englischen Thron als Wilhelm III. übernahm. Gleichzeitig erlaubte er das Brennen dieses, auf englisch abgekürzt „Gin“ genannten und mit Wacholder aromatisierten Schnapses ohne eine Lizenz zu fordern und ohne Steuern dafür zu erheben. Dies bewirkte einen enormen Konsumauftrieb insbesondere bei der ärmeren und sozial schwachen Bevölkerung , da das Getränk jetzt billig und leicht verfügbar war. Hinzu kam, dass die Großgrundbesitzer auf diese Art ihre Getreideüberschüsse an die Brennereien verkaufen konnten. Das Ergebnis der staatlichen Freizügigkeit war ein steter Verfall der zunehmend alkoholisierten Gesellschaft, wie er auf dem berühmten Kupferstich von William Hogarth (1697 – 1764) mit dem Titel „Gin Lane“ karikiert wurde. Die Gesellschaft der Hauptstadt des Vereinigten Königreiches stand im wahrsten Sinne des Wortes vor dem moralischen und materiellen Ruin. Die drastische Darstellung Hogarths war auch ein Beweggrund für den „Gin Act“ der Regierung, mit dem der übermäßige Gebrauch des Fusels wieder eingeschränkt werden sollte. Von da an benötigten die Produzenten eine Brennlizenz, was das Aus für die vielen tausend kleinen Schnapsbrenner war.
An der Londoner Gin-Epidemie des 18. Jahrhunderts lassen sich die sozialen und medizinischen Folgen kollektiven Drogenkonsums gut aufzeigen. London war zu einer Stadt voll von verwahrlosten Alkoholikern geworden und die Straßenkriminalität erreichte ein Rekordniveau. Gewalt und soziale Zerstörung in Familien und Gemeinschaften waren an der Tagesordnung. Es kam zu erheblichen Unruhen auf den Straßen als die Verfügbarkeit von Gin eingeschränkt wurde. Es drohte gar cine Revolution, denn das Recht auf Trunkenheit wurde als „britische Freiheit“ lautstark von den Vorläufern der „Querdenker“ eingefordert. Vieles von damals erinnert auch an die spätere Drogenepidemie („Crack“-Epidemie) im New York der Achzigerjahre.
Einer der Gründe für die große Popularität des Gins war dessen hoher Alkoholgehalt. Das niederländische Original, der Genever, war mit ca. 30. Vol.-% deutlich schwächer als der 40 – 60 %ige Gin, außerdem enthielt dieser häufig Beimischungen von Substanzen wie Terpentin oder Schwefelsäure, die direkte toxische Wirkungen beim Konsumenten hatten. Die traurige Geschichte der Judith Dufour beschäftigte die Gesellschaft des gesamten Vereinigten Königreichs über alle Maßen und zeigt damit wie groß der Leidensdruck von den hunderttausenden von Gin-Abhängigen tatsächlich war: 1734 erwürgte diese junge Frau ihren zwei Jahre alten Sohn nur um seine Kleidung gegen Gin zu tauschen. Sie endete schließlich auf dem Schafott. Dieser Vorfall rief die Gesellschaft zur Besinnung und mit Hilfe entsprechender Gesetzgebung versiegte bald der Durst auf Gin. Noch lange war billiger Gin im Vereinigten Königreich als Teufelszeug verrufen. Heute ist Großbritannien die Heimat der feinsten Gin-Produkte, man findet dort immer mehr hochwertige Destillate und der „London Dry Gin“ ist zur weltweiten Ikone der Gin and Tonic–Freunde geworden.