Was ist eigentlich „Programmmusik“? Um die Antwort auf diese Frage wirklich verstehen zu können sollte man sich vielleicht den Begriff der „absoluten Musik“ vergegenwärtigen. Diese ist frei von Geschehnissen, die außerhalb der Musik liegen, d.h. dass der Komponist in seiner Musik keine konkrete Geschichte erzählen oder Bilder erzeugen will und die Interpretation seines Werkes alleine dem Zuhörer überlässt. Die großen Sinfonien Beethovens, Schuberts, Brahms´, Bruckners und meist auch Mahlers sind Protagonisten der absoluten Musik. Denen gegenüber steht die „Programmusik“ mit einem Inhalt, der jenseits des musikalischen Ausdrucks liegt und im jeweiligen Titel des Stückes beschrieben wird. Der Erzromantiker Franz Liszt hat die Gattung der „Sinfonischen Dichtung“ als Bezeichnung seiner inhaltlich mit Programm versehenen Musik in die Konzertsäle gebracht, beispielsweise die Stücke „Les Préludes“, die „Faust-Sinfonie“ und „Hungaria“. Diese stehen auch am Anfang einer musikalischen Entwicklung, die in Frankreich mit Berlioz und später Debussy, Franck, Dukas und Saint-Saëns als „Programmmusik“ einen künstlerischen Höhepunkt erreicht hat (siehe u.a. im blog hier). Mittels musikalischer Nachahmung von Geräuschen und Tönen aus einem völlig anderen Kontext oder der sog. „Tonmalerei“, in der visuelle Wahrnehmungen dem Hörer durch Töne mitgeteilt werden, gelingt es den Komponisten beim Zuhörer tatsächlich Assoziationen hervorzurufen, die außerhalb der Musik liegen. Auch Stimmungen und menschliche Gefühle erhalten vom Tondichter musikalische Äquivalente. So entstehen aus der Musik erlebbare Geschichten und Bilder. Der Komponist wird zum Poeten und Maler. Keiner kannte die musikalischen Erzähltechniken besser als Hector Berlioz (1803 – 1869), von dem ich ein ganz besonderes Stück nach meiner Begegnung mit dem französischen „Orchestre de Paris“ näher beschreiben möchte.
Die Namen vieler großer Dirigenten sind mit dem genannten Orchester eng verbunden. Seit seiner Gründung im Jahr 1967 war es immer wieder auf internationalen Musikfestspielen zu hören, so auch 2019 beim „68ten Festival de Granada“ wo ich auch anwesend war. Unter der Leitung von Christoph Eschenbach und mit der Stimme der Mezzo-Sopranistin Stéphanie d´Oustrac, einer veritablen Großnichte von Francis Poulenc, kam u. a. „La mort de Cléopatre“ von Hector Berlioz im Innenhof des Palastes von Karl V. zur Aufführung. 75 Jahre nach dem ersten öffentlichen Konzert auf dem Alhambra-Hügel komponierte Hector Berlioz den „Tod der Kleopatra“, eine symphonische Dichtung mit der er sich bei der Pariser Académie des Beaux-Arts um den Prix de Rome beworben hatte. Bereits zweimal vorher hat er vergeblich versucht die Juroren der Akademie von der Qualität seiner Musik zu überzeugen. Waren seine Töne zu unkonventionell oder gar zu revolutionär und haben sie deswegen nicht ausreichend den Ohren der akademischen Juroren geschmeichelt? Auch „die Kleopatra“ vermochte die vermeintlichen Hüter musikalischer Traditionen in Paris nicht von ihrer Preiswürdigkeit zu überzeugen. Heute würde kein Musikkritiker mehr das großartige Stück verreißen, es gehört – obwohl es unbegreiflicherweise sehr selten zur Aufführung kommt – zu den Klassikern der Konzertliteratur.
Der Tod der Kleopatra ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Jugendwerk von Berlioz. Der spätere Meister der Programmmusik, der symphonische Werke wie die „Symphonie fantastique“, „La damnation de Faust“ oder „Harold en Italie“geschrieben hat, greift hier die historische Begebenheit, oder vermutlich eher die Legende vom Selbstmord Kleopatras durch einen von ihr selbst initiierten Kobra-Biss auf und verarbeitet die Emotionen in den letzten Lebensmomenten der einstigen Geliebten von Caesar und Marc Anton. Das Orchester beginnt mit einer wild-leidenschaftlichen Einleitung, die eine Art Psychogramm der verlassenen und enttäuschten Kleopatra ist, und geht in das Rezitativ „C´men est donc fait“ über. Jetzt durchlebt sie eine Zusammenfassung der letzten Erlebnisse mit ihrem Feind Oktavian: sie wurde besiegt und erniedrigt. Anschließend folgt die Erinnerung an die besseren Tage ihres Lebens „Ah! Qu´ils sont loin ces jours“. Dann kommt die Meditation „Grands Pharaons“ was eine von Berlioz großartig instrumentierte Rückblende auf die große Vergangenheit ihrer stolzen Königsfamilie ist. Schließlich holt sie die Schlange für den todbringenden Biss „Non!… non, de vos demeures funèbres“. Man hört in der Musik ein letztes, kraftloses Aufbäumen der sterbenden Königin und ihre immer schwächer werdenden Herztöne. Der Gesang der Kleopatra ist große Oper und wühlt die Zuhörer dieser großartigen Musik auf. Berlioz gelingt es mit seiner „Kleopatra-Geschichte“ das Publikum in seinen Bann zu ziehen, denn der poetische und musikalische Inhalt dieses Stückes ist leicht nachzuvollziehen und beflügelt die Phantasie. Die „Cléopâtre“ ist jugendliche und leidenschaftliche Musik und tatsächlich eine ganzheitliche, eine „polyästhetische“, Kunsterfahrung mit vielen Facetten die die Sinne tief berühren und Emotionen zum Schwingen bringen. Mit der Programmmusik ist es wie mit der Literatur: ein spannender Titel alleine macht noch kein gutes Buch. Die Kleopatra allerdings bestätigt die Kunst von Berlioz, denn sie kann man auch ganz unabhängig von ihrer Geschichte mit größtem Musikgenuss hören!
Bleiben Sie stets neugierig… und durstig!