Reisen scheint zur Lieblingsbeschäftigung aller Generationen geworden zu sein. Die leichte Verfügbarkeit von Transportmitteln zu Land, Wasser und Luft, gepaart mit dem unsäglichen Konkurrenzkampf der Reiseunternehmen untereinander haben die Reisekosten beinahe für jedermann erschwinglich gemacht. Es kann sogar preisgünstiger sein eine Junggesellenabschiedsparty am Ballermann zu feiern als in einer Frankfurter Kneipe. Den Sommer am Mittelmeer zu verbringen wird schon nicht mehr als Reise in ein fremdes Land betrachtet, denn Bier, „Wienerle“ und Brezeln gibt es auch dort überall und unter sich bleibt man meist auch. Es gibt genug Kritik an diesen Massen von reisenden Zeitgenossen, ja sogar die Gastgeber in der Fremde beginnen zu verstehen, dass man sie, trotz ihres Geldes, eigentlich nicht mehr haben will. Aber es gibt selbstverständlich auch noch andere Reisende, eben jene, die es mit dem großen deutschen Reise-Vorbild Alexander von Humboldt halten: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“ Nicht um Bier zu trinken verreist man, sondern um zu sehen und zu verstehen was man gesehen hat. Damit erweitert sich der geistige Horizont des Betrachters und er oder sie haben vielleicht etwas fürs Leben gelernt.
Aber auch Reisen um des Sehens Willen scheinen mir mittlerweile zu einer monströsen Flut von Menschen anzuschwellen. Unter meinen Freunden und Bekannten gibt es kaum mehr einen, der sich nicht nach einem exotischen Reiseziel sehnt oder bereits dort war. Die Antarktis, der Dschungel in Südamerika, eine Safari in Afrika, die Canyons in den Rocky Mountains, entlang der Seidenstraße nach China u.v.m. sollen das Fernweh stillen oder haben es vielleicht schon getan. Man kann Nächte lang darüber sprechen und seine Reise-Erfahrungen austauschen (ganz zu schweigen von den unsäglichen Bildern im Computer oder auf dem Smartphone, zu deren Betrachtung man vielfach genötigt wird). Wer redet eigentlich vom Zuhause? Viele Aphorismen und Sprüche beziehen sich auf das Reisen, was ja gelegentlich als Metapher für das Leben dient. Doch wo führt die Lebensreise eigentlich hin? Ich erinnere mich an einen Spruch, den ich einmal irgendwo gehört habe: „Wer daheim bleibt braucht den Heimweg nicht zu suchen“. Auch darin steckt eine Erkenntnis, vielleicht sogar die Antwort auf die Frage nach dem Ziel unserer Lebensreise, nämlich Heimat! Der Weg in die Heimat ist nicht von farbenfrohem ländlichem Brauchtum und kitschigen Souvenirs geprägt, es ist ein geistiger Prozess: der Weg zu sich selbst.
Eigentlich wollte ich von Claude Debussy (1862 -1918) und seinem Klavier-Stück „La Soirée en Granade“ (Der Abend in Granada) sowie seiner Entstehung sprechen. Der Komponist kam aus sehr einfachen familiären Verhältnissen. Zwar war der Vater Buchhalter bei einer Eisenbahngesellschaft, aber das Reisen gehörte nicht zum Leben im Hause der Debussys. Außer als Reisebegleitung seiner ersten Mäzenin, Nadescha von Meck, in die Schweiz und nach Italien ist er wenig herum gekommen und seine Sehnsuchtsorte lagen immer in fernen, unerreichbaren Ländern. Auf den Pariser Weltausstellungen von 1889 und 1900 faszinierte Claude Debussy nicht nur der neu erbaute Eiffelturm sondern auch seine Bekanntschaft mit der javanischen und arabischen Musik. Diese Erfahrung setzte er in seinen drei Klavierstücken, die Jahre später unter dem Titel „Estampes“ (1903) erschienen, um. „Estampes“ sind eigentlich Drucke, d.h. Holz- oder Kupferstiche bzw. Lithografien. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Klaviermusik auch um drei thematisch voneinander unabhängige, musikalische Bilder mit den Titeln „Pagodes,“ „La Soirée dans Grenade“ und „Jardins sous la pluie“. Pagoden auf Java und den Abend in Granada hatte der Komponist nie selber erlebt. Wie uns Udo Zilkens (Claude Debussy spielt Claude Debussy. Köln, 1998, S. 25.) mitteilt, soll Debussy an den großen Dirigenten André Messager, der die Uraufführung seiner Pelléas et Mélisande geleitet hatte, mit Bezug auf die „Estampes“, geschrieben haben: „Wenn man nicht das Geld hat, sich Reisen leisten zu können, muss man sie im Geist machen.“
Ganz zu Anfang des Stückes vom Abend in Granada steht ein maurisches Thema welches die zarte Säulen-Architektur des Löwenhofes auf der Alhambra suggeriert. Später kommen noch Gitarren- und Kastagnetten-Motive hinzu. Manuel de Falla soll Debussy enthusiastisch versichert haben, sein Stück habe wirklich den Geist der Stadt getroffen, ohne jedes musikalisch-folkloristische Zitat. Der Dichter Federico García Lorca, dessen Heimat tatsächlich Granada war, hat sich ganz ähnlich geäußert. In die Poesie fremder Orte einzutauchen und ihr einen eigenen Ausdruck zu geben war das Geheimnis Debussys und auch vieler großer Reiseschriftsteller. Man denke an Jules Verne, der uns in 80 Tagen um die Welt geführt hat oder an die wunderbare Schatzinsel, die wir mit Robert Louis Stevenson entdecken durften. Im Geiste zu verreisen spart Geld und verhindert Umweltschäden, d.h. ist Klima-neutral; im Geiste zu verreisen kann außerdem jederzeit und jederorts geschehen, die Vielfalt der Reiseziele ist unerschöpflich… und wir müssen den Heimweg nicht suchen.
Bleiben Sie stets neugierig… und durstig!