Wenn man die große Treppe des Frankfurter Städel Museums hinauf geht trifft man im ersten Saal des oberen Stockwerks auf das spektakuläre Bild Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins mit dem Titel „Goethe in der Campagna“. Die Erscheinung des auf einem waagerecht liegenden, steinernen Obelisken sitzenden Goethe hat, trotz aller anatomischer Ungereimtheiten der Darstellung, etwas Majestätisches. Es ist eben niemand anders als der Dichterfürst, dessen Macht nicht im Irdischen sondern im Intellekt liegt – und man sieht es seinen Gesichtszügen an. Kein anderer Schriftsteller hat uns Deutschen so viele Aphorismen und Lebensweisheiten hinterlassen wie er. In die südliche Landschaft der Römischen Campagna blickend muss er sich gedacht haben „die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen“. Stillschweigend annehmend, dass ich selbst ein gescheiter Mensch bin, habe ich diesen Goethe-Spruch schon vielfach beherzigt und bin erst kürzlich nach Kampanien gereist, genauer gesagt, zur einstmals griechischen Siedlung namens Paestum, die von der UNESCO als Weltkulturerbe eingestuft ist. Dort stand ich dann von metaphysischen Schauern wie gelähmt vor dem großartig erhaltenen Poseidon-Tempel. Poseidon, Bruder des Zeus und Gott des Meeres, der unter Wasser in einem kristallnen Palast wohnt und seinen Dreizack schwingt, lässt die ganze griechische Götterwelt an diesem wirklich magischen Ort vor meinem geistigen Auge auferstehen.
In Goethes Aufzeichnungen seiner „Italienische Reise“ kann man unter dem 23. März 1787 lesen „…wie die Jahrhunderte sich aus dem Ernsten in das Gefällige bilden, so bilden sie den Menschen mit, ja sie erzeugen ihn so. Nun sind unsere Augen und durch sie unser ganzes inneres Wesen an schlankere Baukunst hinangetrieben und entschieden bestimmt, so dass uns diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig, ja furchtbar erscheinen. Doch nahm ich mich bald zusammen, erinnerte mich der Kunstgeschichte, gedachte der Zeit, deren Geist solche Bauart gemäß fand, vergegenwärtigte mir den strengen Stil der Plastik, und in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet, ja ich pries den Genius, dass er mich diese so wohl erhaltenen Reste mit Augen sehen ließ, da sich von ihnen durch Abbildung kein Begriff geben lässt.“ Aus diesen Zeilen spricht zunächst eine gewisse Enttäuschung über den Goethe unbekannten griechischen Baustil. Aber nach weniger als einer Stunde war ein Lernprozess abgeschlossen und der 28-jährige begann zu begreifen was er vor sich sah.
Auf dem Weg zum benachbarten Hera-Tempel, auch die Basilika genannt (Hera war übrigens die Frau, aber gleichzeitig auch die Schwester von Zeus. Damit war sie ein Kind der Titanen Kronos und Rhea. Hera war die Wächterin der Treue und Beschützerin der Ehe und Niederkunft) kommt man an einem kleinen Rosenbeet vorbei dessen feiner Duft einen sofort in Bann zieht. Ein kleines Hinweisschild klärt auf, dass es sich um die typische Rose Paestums handelt, die auch in griechischer bzw. der darauf folgenden römischen Zeit hier außerordentlich beliebt war. Vergil hat sie besungen (50 v.Chr.), aber Goethe erwähnt sie überhaupt nicht, dafür sein Zeitgenosse Johann Gottfried Seume, der auf seinem legendären „Spaziergang nach Syrakus“ (1801-1802) die Rosen von Paestum finden wollte und folgendes erlebte: „Ich suchte, jetzt in der Rosenzeit, Rosen in Pästum für Dich, um Dir ein klassisch sentimentales Geschenk mitzubringen; aber da kann ein Seher keine Rose finden. In der ganzen Gegend rund umher, versicherte mich einer von den Leuten des Monsignore, ist kein Rosenstock mehr. Ich durchschaute und durchsuchte selbst alles, auch den Garten des gnädigen Herrn, aber die Barbaren hatten keine einzige Rose. Darüber geriet ich in hohen Eifer und donnerte über das Piakulum (Verbrechen. Anm. von PH) an der heiligen Natur. Der Wirt, mein Führer, sagte mir, vor sechs Jahren wären noch einige dagewesen, aber die Fremden hätten sie vollends alle weggerissen. Das war nun eine erbärmliche Entschuldigung. Ich machte ihm begreiflich, dass die Rosen von Paestum ehedem als die schönsten der Erde berühmt gewesen, dass er sie nicht musste abreißen lassen, dass er nachpflanzen sollte, dass es sein Vorteil sein würde, dass jeder Fremde gern etwas für eine paestische Rose bezahlte; dass ich, zum Beispiel, selbst jetzt wohl einen Piaster gäbe, wenn ich nur eine einzige erhalten könnte.“ Die von Seume beklagte Existenzvernichtung der Rosen in Paestum erinnert durchaus an heutige Probleme mit dem Tourismus.
Was war das Besondere der Rosen von Paestum? An erster Stelle ist da die zweimalige Blüte im Jahr zu nennen. Diese Besonderheit der Natur erreichte man durch eine spezielle Veredlungstechnik, die bereits den Gärtnern Paestums in der Antike bekannt war. Der römische Ausdruck „Paestano cultu“ weist auf diesen Umstand. Die leuchtend rosa Blüten sind üppig gefüllt und ihr Duft muss schon zu Vergils Zeiten sehr ausgeprägt gewesen sein. Wie archäologische Funde zeigen, wurden die Rosenblätter vor Ort in entsprechenden Parfümerien zu Rosenöl verarbeitet. Olivenöl war immer die Grundlage antiker Parfüms. Heute besinnt man sich wieder dieses großen Dufterbes und 2003 kreierte das Haus „Eau d´Italie“ ein Unisex-Eau de Toilette namens „Paestum Rose“. Während Rosenöl Bestandteil vieler kosmetischer Präparate ist, hat sich das Rosenwasser vornehmlich in der (orientalischen) Küche bewährt. Wie jeder Weinfreund weiss ist Rosenduft häufig auch ein Merkmal von Weinen aus Traminer- oder Muskatellertrauben.