Es gibt begeisterte Weinfreunde, die ihre Lieblinge in Flaschen wie „Kunstwerke“ betrachten und deren Schöpfer, den Winzer, als Künstler wahrnehmen. Der Begriff der Kunst leitet sich von Können ab und vereinfachend kann man sagen, dass jede Fertigkeit und jedes Handwerk eine „Kunst“ ist. So gesehen ist der Winzer ganz sicher auch ein Künstler. Die teilweise astronomischen Preise, die seine „Werke“ auf Versteigerungen erzielen können, rücken ihn auch in seiner Wertschätzung tatsächlich nahe an große Künstler. Streng genommen „macht“ der Winzer den Wein aber gar nicht. Es ist die Natur, die die Voraussetzungen schafft, die der Winzer lediglich unterstützt und in die richtige Abfolge ordnet, die allerdings vielfach in den örtlichen Traditionen festgeschrieben ist.
Kunst muss man sehen, hören, und fühlen. Der Geruchs- und der Geschmacksinn werden bei Betrachtungen über Kunst leider meist vernachlässigt. Zum Wesen der Kunst gehört vordergründig, dass der Schöpfer eines Werkes den Betrachter oder Zuhörer in irgendeiner Weise mehr oder weniger angenehm berührt, d.h. ihm ein Gefühl der Ästhetik vermittelt. Auch das kann der Winzer mit seinem Wein. Was er nicht kann, ist durch schöpferische und gestaltende Maßnahmen seinen Erfahrungsbereich überschreiten und eine neue, sinnlich erfassbare Wirklichkeit schaffen, d. h. er kann kein neues Bewusstsein induzieren, was gute Kunst immer tun sollte. Der Mangel an Transzendenz wird allerdings ausgeglichen durch bewusst gestaltete und sinnlich erlebbare Lustbefriedigung, die wir landläufig als Genuss bezeichnen. Aber auch das ist noch keine Kunst. Es gibt im Wein eben keine erzählerischen, thematischen oder symbolischen Inhalte wie in den bildenden oder darstellenden Künsten.
Andererseits ist auch die Natur selbst eine Künstlerin und kann, ohne menschliches Dazutun, großartige Ästhetik hervorbringen. Man denke nur an die kunstvoll filigranen Spinnennetze , die Gesänge der Wale, die Farbenpracht des Gefieders von Vögeln, den Duft eines südlichen Pinienhains oder den Geschmack von Blütenhonig. Der Wein fügt sich hervorragend in diese Aufzählung ein. Wir sprechen im Zusammenhang mit Schönheit in der Natur zwar von Ästhetik aber niemals von Kunst.
Eine unter vielen anderen Funktionen der Kunst ist die „Nachahmung“ der Natur bzw. ihre Idealisierung, die dadurch „delokalisierbar“, d.h. an anderen Orten als dem ihrer Entstehung erlebbar wird. Hier sind wir schon wieder beim Wein: in ihm lebt die Natur seiner Rebgärten und Landschaft und kann an jedem beliebigen Ort der Welt nach dem Öffnen der Flasche im Glas beim Genuß wieder emotional erstehen. Also doch Kunst?
Ist das Thema vom Wein und der Kunst vielleicht nur ein Streit um des Kaisers Bart? Die Argumentationen pro und contra werden durch die Tatsache zusätzlich erschwert, dass der Wein zu den Alkoholika zählt. Zur Pharmakologie des Alkohols gehört bekanntermaßen die Einschränkung des Beurteilungsvermögens und wie soll man unter derartigen Umständen objektiv beurteilen können ob Wein Kunst sei oder nicht?