In meiner Zeit als aktiver Journalist bei der Zeitschrift „Alles über Wein“, die bis 2005 zu den führenden deutschsprachigen Weinzeitschriften gehörte, habe ich viele professionelle Weinproben miterlebt. Dabei war ich persönlich immer wieder mit der Frage konfrontiert wie viele Weine ich hintereinander probieren konnte ohne mein Differenzierungsvermögen zu verlieren. Diese Frage war sehr relevant, denn wir hatten ja gelegentlich bis zu 40 Weine im Laufe der Verkostung zu beurteilen. Bei der Bewertung spielen Augen, Mund und Nase die Hauptrolle aber es waren eigentlich immer der Geschmack, also Zunge und Gaumen, die als erstes ermüdeten und schlapp machten, und das war bei Rotweinen wesentlich ausgeprägter als bei weißen. Insbesondere tanninreiche Kreszenzen schufen Probleme, denn die Adstringens krallt sich förmlich fest in den Schleimhäuten des Mundes und hinterlässt einen länger anhaltenden, unangenehmen und metallischen Eindruck. Dieser verstärkt sich im Laufe einer Rotweinprobe derart, dass man ab einem bestimmten Zeitpunkt seiner Aufgabe als objektiver Verkoster nicht mehr gerecht werden kann. Der Mund ist „zugekleistert“. Die Nase ist da wesentlich belastbarer bzw. aufnahmefähiger.
Erfahrene Verkoster behaupten immer wieder, dass das Spucken eine unumstößliche Voraussetzung für eine Verkostung mit einer größeren Anzahl von Proben sei. Dem kann ich nur sehr bedingt beipflichten. Die Ästhetik wird bei diesem Akt, insbesondrere bei gemeinschftlichen Spucknäpfen, häufig völlig ausser Acht gelassen, kann aber die Psyche des Verkosters – und damit sein Urteil – sehr negativ beeinflussen. Meine hauptsächlichen Bedenken gegen das Spucken haben aber etwas mit der topgrafischen Anatomie des sog. gustatorischen Systems (Geschmack) zu tun. Geschmackssinneszellen befinden sich eben nicht nur am Zungenrand und an der Zungenwurzel, sondern auch im Bereich des Kehlkopfes (Larynx) und des Schlundkopfes (Pharynx), also in Regionen, die nur beim Runterschlucken tatsächlich berührt werden. Ausserdem liegt dort hauptsächlich die Empfindung für bitter und den mit dieser Qualität verwandten Geschmacksnuancen. Das Spucken eliminiert damit letztlich die Möglichkeit einer ganzheitlichen Beurteilung des Weines.
Natürlich kann man mit sehr viel Routine und Übung im Verkosten durchaus eine größere Anzahl von Weinen noch adäquat beurteilen aber es ist nicht zu leugnen, dass feine, filigrane Tropfen, die qualitativ abolute Höhepunkte sein können, gegenüber vorangegangenen, mächtigen, extraktreichen „Granaten“, sogar bei deutlich minderer Qualität, keine Chance haben. Das gilt für Weißweine ebenso wie für Rotweine. Auch der wirkliche Profi wird bei 30 oder 40 Weinen an das absolute Limit seiner Urteilsfähigkeit kommen, mag er noch so viel „reinigendes“ Wasser zwischendurch trinken. Und noch etwas: selbst beim Spucken wird über die Schleimhäute des Mund- und Rachenraumes Alkohol resorbiert, der sein übriges tut die Urteilsfähigkeit herabzusetzen (Weine, die am Ende einer Probe ein zweites Mal blind verkostet werden, werden fast immer wesentlich besser als anfangs beurteilt. Was sagt uns das?). Ein Nicht-Profi-Weinfreund kann maximal zwischen 8 und 12 Weine genussvoll verkosten und beschreiben, ein geübter Verkoster sicher das Dreifache, aber häufig dann ohne viel Genuss.