Außer dem Wein gibt kein anderes Genussmittel bei dem der Zwang der Hersteller und der Konsumenten derart groß ist es zu kategorisieren und in eine intellektuelle Schublade zu stecken. „Regulierungsbehörden“ wachen über die Einhaltung der Weingesetze und Weinfreunde können sich darüber echauffieren ob eine gegebene Spätlese nicht vielleicht doch schon eine Auslese sei, oder ob eine „Reserva“ von ihrer Ausbauzeit nicht schon eine „Gran Reserva“ genannt werden dürfe. Über die Herkunft der Trauben wird bürokratisch Buch geführt und entsprechende Titel wie „Tafelwein“, „Landwein“ oder Prädikatswein“ vergeben und der Wein wird ggf. mit einer „amtlichen Prüfnummer“ versehen. Die berühmte Qualitätsklassifizierung der Weingüter in Bordeaux aus dem Jahre 1855 (Grand Cru Classé) war wohl nur ein geniales Marketing-Instrument, wird aber von den Weintrinkern in aller Welt unverändert ernst genommen und finanziell entsprechend honoriert. Genau wie übrigens die Punkte der Weingurus, die ja überhaupt nichts „Offizielles“ an sich haben und ganz und gar der geschmacklichen Willkür eines einzelnen Journalisten entspringen. Die Beschriftung „ökologischer Rebbau“ auf dem Etikett reicht dem engagierten Öko-Freak nicht, sie muss von einer staatlich zugelassenen Stelle zertifiziert sein. Vereinigungen wie „Slow Wine“ oder „Heroischer Rebbau“ versuchen Alleinstellungsmerkmale für ihre Mitglieder zu schaffen wo es eigentlich keine sehr präzisen derartigen gibt. Unzählige regional organisierte Winzergruppen machen genau das Gleiche: Gemeinsamkeiten der Gruppenmitglieder festzustellen und eine Abgrenzung zur Konkurrenz herzustellen. Die Liste der Schubladen in denen Weine verstaut werden können, scheint schier unendlich lang zu sein.
Was ist der Grund für dieses ausgeprägte Schubladendenken im Umfeld des Weins? Ich vermute, dass es etwas mit der Komplexität des Produktes zu tun hat. Wer nicht extensive Erfahrung mit dem sensorischen Erlebnis Wein hat, wird häufig mit einem persönlichen Gaumenrätsel konfrontiert. Da ist es dann schon sehr hilfreich, wenn man weiß in welche Schublade der Inhalt des vor einem stehenden Glases zu packen ist. Das gibt Erklärung und zusätzliche Informationen. Wein wird als Kulturgut wahrgenommen und hat deswegen, wie Gemälde oder Architektur, vermeintlich Anspruch auf eine offizielle Interpretation, die – ähnlich eines Museumkataloges – kommuniziert werden sollte. Aber auch die Winzer haben viel davon, denn sie müssen verkaufen und im Kampf um die Kunden können Siegel und Logos von bekannten Weinorganisationen vordergründig Vertrauen schaffen, da sie eine Art Qualitätsgarantie suggerieren. Im täglichen Sprachgebrauch identifizieren wir Schubladendenken meist mit Vorurteilen und einer gewissen Unbeweglichkeit, beides Attribute, die für manche Weinfreunde leider tatsächlich zutreffen. Aber Schubladen können gelegentlich auch helfen das Profil ihres Inhalts zu schärfen und für den Konsumenten erkennbarer zu machen. Wichtig erscheint mir, besonders beim Wein, dass die Schubladen immer leicht zu öffnen sind und, dass in ihnen ausreichend Platz für neue Erkenntnisse bleibt. Andernfalls werden sie zu Folterinstrumenten von bürokratischen Betonköpfen und verderben den Spaß am Wein.