Eines der ganz großen Portraits der deutschen Renaissance-Malerei stammt von Hans Holbein dem Jüngeren (1498 – 1543) und stellt den einflußreichen, zeitgenössischen Humanisten und Schriftsteller Erasmus von Rotterdam (1469-1536) dar. Erasmus war als Philologe, Theologe und Philosoph mit seinen kirchlichen Reformideen ein Wegbereiter Martin Luthers. Auf dem Portrait (National Gallery, London) wird er vom Künstler ganz bewusst als feinsinniger Gelehrter idealisiert. Sein kultivierter und aufgeklärter Charakter, der aus seinen Gesichtszügen spricht, überträgt sich auf den Betrachter, der sofort Vertrauen in die Person von Erasmus fasst. Oben rechts im Bild erkennt man hinter einem halb aufgezogenen, grünen Vorhang und auf einem kleinen Holzregal an der Wand, eine Art Vanitas-Stillleben: ein paar Bücher, mit offensichtlich unbedeutenden Titeln und eine ganz typisch geformte, aber leere, Weinkaraffe.
Neben seinem Literaturstudium hatte Erasmus eine gut dokumentierte Liebe für den Wein. Um die Wende zum 16. Jahrhundert, schrieb er in seinem satirischen Meisterwerk „Encomium moriae” (Lob der Torheit): „Ich habe die Quelle der ersten und vornehmsten Freuden des Lebens aufgedeckt. Ja, es fehlt an einigen nicht, die man eben so weibisch nicht nennen kann; es sind alte, durstige Brüder, welche höchste Wollust beim Weine finden.” Schon in der damaligen Sprache, dem Frühneuhochdeutsch, bezeichnete das Wort „Wollust” etwas moralisch Anrüchiges im Sinne von sexueller Lust, Ausschweifung und Laster. Diese Bedeutung hat der Begriff bis heute behalten und war von Erasmus mit Bedacht gewählt. Vanitas, Eitelkeit und Vergänglichkeit wird auch durch die alten, durstigen Brüder symbolisiert. Die gleichberechtigte Berücksichtigung der Frau in seinen Überlegungen zum Weinkonsum, war Erasmus, natürlich zeitbedingt und lange vor dem Beginn von Frauenrechtsbewegungen, völlig fremd. Eine leere Weinkaraffe war sicher nicht nur für die durstigen Brüder ein trauriges Symbol der Vergänglichkeit, sondern scheint auch Erasmus zum Nachdenken bewogen zu haben, wie es uns Holbein der Jüngere mit seinem Gemälde suggeriert.
Fast ein Jahrhundert nach Holbeins Bild entstand in den spanisch besetzten Niederlanden, die sog. „Vanitas“-Stillebenmalerei. Zur Zeit des Achtzigjährigen Krieges (Spanisch-Niederländischer Krieg) machte sich in der Gesellschaft der Gedanke an die Vergänglichkeit im Bewusstsein der Bürger breit. In der Malerei suchte man deshalb nach symbolischen Objekten der Vergänglichkeit und fand sie im Totenkopf, der Sanduhr und anderen Zeitmessern, in brennenden Kerzen, in Blumen und in Früchten. Die dargestellte Botschaft sollte lauten: Seht her, das irdische Leben ist vergänglich und eitel! Unter den Künsten hat wohl Musik die geringste Schwierigkeit Vergänglichkeit darzustellen, denn sie selbst beruht ja ausschließlich auf dem flüchtigen Klang der Töne: sobald sie entstehen und vernommen werden, verklingen sie schon wieder. Daher ist es gerechtfertigt als ein ganz wesentliches Charakteristikum der Musik die Vergänglichkeit zu nennen.
Kein Wunder, dass Musikinstrumente, die ja als Urheber der Musik angesehen werden müssen, als „Vanitas“-Symbole ihren Weg in die Stillebenmalerei gefunden haben. Als Beispiel dafür mag der barocke Kupferstich des Theodor Matham (1606–1676) aus dem Jahr 1622 dienen: unter dem dekorativen Schild, in das das Wort „Vanitas“ geprägt ist, sieht man einige damals in Gebrauch befindliche und schon dem Erasmus von Rotterdam gut bekannte Musikinstrumente sowie ein aufgeschlagenes Notenbuch. Die Aussage dieser Darstellung ist unmissverständlich: Die vergänglichen Töne der Instrumente verlieren sich unwiederbringlich im Raum, sie müssen immer wieder neu geschaffen werden und sie leben in einem hohen Maße von der Zeit. Die Zeit ist eine elementare Voraussetzung, dass die Aneinanderreihung von Tönen zu einem geordneten Klangereignis, mit einem akustischen Inhalt wird. Musik ist nur in der Zeit lebender Schall und Ton, bei denen, genauso wie in der gefühlten Zeit des Menschen, die Bewegung eine bestimmende Rolle spielt. In der Musik wird die Zeit gleichberechtigt durch Melodie und Rhythmus geformt. In der Gestaltung der Hörereignisse und ihrer komplexen Beziehungen zueinander in der Zeit, liegt das Geheimnis, bzw. die große Kunst der Musik. Wie im Leben des Menschen gehen auch in einem Musikstück Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein nicht zu entflechtendes, vorübergehendes Zeitengewirr ein. Alle drei Zeitzustände bedingen sich gegenseitig, fließen ineinander, emulgieren sich und verleihen der Musik Ausdruck und Emotion, in die der Zuhörer versinken kann. Genau wie die Zeit ist die Musik vergänglich. Der aufgeklärte und freidenkende Humanist Erasmus war ein großer Musikfreund und ließ sich von der zeitgenössischen flämischen, französischen und spanisch-maurischen Musik u. a. auch für sein kleines Meisterwerk „Encomium moriae” (Lob der Torheit) inspirieren.
Bleiben Sie stets neugierig …und durstig!