Sind Impfgegner Neo-Romantiker?

Edward Jenner, der Vater der ersten Pockenschutzimpfung in Schottland.

Eines der größten Probleme der gegenwärtigen Gesundheitspolitik ist die große Zahl der Verweigerer der Covid-19-Impfung. Knapp ein Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung lassen sich nicht impfen und die Politik kapituliert vor dieser Tatsache. Das wird gelegentlich als „Staatsversagen“ apostrophiert und manche reden gar von einem „Kulturkampf“ zwischen Geimpften und Ungeimpften. Da werden von den Impfgegnern wieder Begriffe wie „persönliche Freiheit und Selbstbestimmung“ sowie „Menschenrechte und Menschenwürde“ ins Feld geführt. Das erinnert doch sehr an die bekannten Forderungen der „Aufklärung“ am Beginn des 19. Jahrhunderts! Die Medizin erlebte genau zu dieser Zeit einen bedeutsamen Paradigmenwechsel und um zu verstehen welchen Einfluss dies noch auf unser heutiges medizinisches Denken hat, lohnt sich ein Blick auf die Geschichte. Seit Jahrhunderten galt die antike „Säftelehre“ als Grundlage allen medizinischen Handelns. Diese sog.  Humoralpathologie gründete sich auf das ausgewogene oder gestörte Verhältnis der vier Grundsäfte des Körpers „sanguis“ (Blut), dcholera (gelbe Galle), „melancholia“ (schwarze Galle) und „phlegma“ (Schleim). Krankheit bedeutete ein Vorherrschen eines oder mehrerer dieser vier Elemente. Die Behandlung der Krankheiten bestand entsprechend immer aus dem „Ausleiten“ des jeweils im Übermaß vorhandenen Saftes. So wurden Maßnahmen zur Harn und Stuhl Entleereung, zum Auslösen von Erbrechen oder Schwitzen oder lokale Blutentleerungen mit Blutegeln oder „Schröpfköpfen“ als Therapie empfohlen. Die ultima ratio war immer der Aderlass, d.h. das Abziehen des im Überfluss im Blut vorhandenen krankheitserzeugenden Saftes. Gegen diese groben, wenig zimperlichen und aus heutiger Sicht auch erfolglosen Therapiemethoden rührte sich massiver Widerstand.

Mit dem Schotten John Brown (1736-1788) begann ein neues Zeitalter in der Medizin. Seine Vorstellungen basierten auf der Annahme, dass der Lebensprozess aus einem Gleichgewicht von Reizen und Erregung bestand und es gab nur zwei Gruppen von Krankheiten, nämlich solche, die auf schwächende Mittel wie Lichtentzug, kalte Bäder oder Opium reagierten und solche, die stärkende Mittel, wie warme Bäder, Kampfer, Gewürze und nahrhaftes Essen, einschließlich Alkohol, reagierten. Mit Brown begann die „romantische Medizin“, deren oberste Anforderung an jegliche Therapie war, selbst unschädlich zu sein und keine Nebenwirkungen zu haben. Der theoretische Unterbau stammte von Friedrich Wilhelm Schelling (1775 – 1854) und seiner Naturphilosophie. Diese von der Gesellschaft enthusiastisch gefeierten Ideen wurden in der Homöopathie des Samuel Hahnemann (1755 – 1843), im tierische Magnetismus des Franz Anton Mesmer (1734-1815) und schließlich in der spätromantischen, anthroposophischen Medizin Rudolf Steiners (1861 – 1925) verwirklicht.  Seit den ersten erfolgreichen Pockenimpfversuchen des britischen Arztes Edward Jenner (1749 – 1823) im Jahre 1796 gibt es diesen Konflikt zwischen den Impf-Befürwortern und den in der romantischen Medizin beheimateten Impf-Gegnern. Ein Kampf also, der so alt wie die Impfung selbst ist.

Wir verstehen heute recht gut wie die damals alternative Medizin in das magische und romantische Weltbild unserer Vorfahren passte. Wie tief die Heilslehren von Hahnemann und Steiner noch heute in unserem Leben und unserem Staat verwurzelt sind, erkennt man an der Tatsache, dass, obwohl die Wirksamkeit von homöopathischen oder anthroposophischen Arzneimitteln wissenschaftlich nicht belegt ist, diese heute in Deutschland als alternative Heilverfahren vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen sind und über die gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden können. Außer in den anderen deutschsprachigen Ländern Österreich und Schweiz, in denen es  eine ähnliche, romantische Medizintradition gibt, sind diese Medikamente in keinem Staat der westlichen Welt offiziell als Therapeutika anerkannt. Es geht offensichtlich um verschiedene Weltbilder in der Behandlung von Krankheiten. Den Schlüssel zum Verständnis dieser Zusammenhänge liefert ein Bericht des Zulassungsausschusses des Ministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit vom 28.04.1976, anlässlich einer Novelle des Arzeimittelrechtes: „Der Ausschuß ist von der Tatsache ausgegangen, dass auf dem Gebiet der Arzneimitteltherapie mehrere Therapierichtungen nebeneinander bestehen, die von unterschiedlichen theoretischen Denkansätzen und wissenschaftlichen Methoden ausgehen.“ Außerdem hat man sich von der politischen Zielsetzung leiten lassen „dass sich im Zulassungsbereich der in der Arzneimitteltherapie vorhandene Wissenschaftspluralismus deutlich widerspiegeln muss.“ Eine unausgesprochene Kardinalforderung der alternativen Arzneimitteltherapie scheint, analog der romantischen Medizin, das hippokratische „nihil nocere“ (lat.: nur nicht schaden) zu sein und dies wäre eine zusätzliche Rechtfertigtigung der nach schulmedizinidchen Kriterien wirkungslosen Therapien.

Wissenschaftspluralismus bedeutet eben nicht, dass ausschließlich die Methodik der akademischen Naturwissenschaft die Beurteilungskriterien für die „Wissenschaftlichkeit“ liefert. Auch andere „Wissenschaften“ wie Homöopathie und Anthroposophie können das, jenseits universitären Denkens, wenigstens theoretisch leisten.  Wen wundert es, dass sich in diesem Umfeld auch Impfgegner tummeln und ihre alternativ-wissenschaftlichen Standpunkte durchzusetzen versuchen? Es wird zwar nicht mehr die romantische Medizin als Entlastung bemüht, dafür aber politische Schlagworte wie „Beschränkung der Freiheit“ und „Bevormundung“ durch den Staat. Der Druck drohender Impfplicht erzeugt den Gegendruck der Impfgegner, die, wie ihre romantischen Vorläufer vor 200 Jahren von unakzeptablen Wirkungen und Nebenwirkungen der Impfstoffe phantasieren.

Als schulmedizinisch ausgebildeter Bürger stehe ich im gegenwärtigen Kulturkampf voll hinter der akademischen Naturwissenschaft, aber ich respektiere den kulturellen Hintergrund der Impfgegner und sehe das große Dilemma der Politiker sich durch die beabsichtigte Pluralität der Meinungen hindurchschlängeln zu müssen ohne allzu viel gesellschaftliches Porzellan zu zerschlagen und gleichzeitig nicht zu ignorieren, dass wir im 21. Jahrhundert leben.

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