Im Fokus des Gender-Diskurses: Richard Wagner

Frou-Frou Wagner. Karikatur auf die Publikation der Briefe Wagners an seine Wiener Putzmacherin. Floh, Wien 1877 (links: Richard Wagner, rechts: Daniel Spitzer)

Die berühmte Aussage Simone de Beauvoirs (1908 – 1986) eine Frau werde nicht zur Frau geboren sondern dazu gemacht, lässt sich, wie man weiß, mit der gleichen Berechtigung auch auf das Mann-Sein beziehen. Wenn wir von den sozialen Aspekten der Geschlechtsdifferenzen reden, benutzen wir heute vielfach den englischen Terminus „Gender“ im Gegensatz zum Sex, der die biologische Seite des Geschlechts bezeichnet. Komplex wird es, wenn wir juristische Aspekte mit in Betracht ziehen, denn seit Ende 2018 haben Menschen in Deutschland die Möglichkeit, beim Eintrag in das Personenstandsregister außer den Geschlechtern „männlich“ und „weiblich“ auch die Option „divers“ zu wählen, die sogenannte „Dritte Option“. Damit war ein neuer Diskurs über non-binäre (binär = zweiteilig) Veranlagungen in der deutschen Gesellschaft eröffnet. Wegen der genau umrissenen Thematik des vorliegenden, kleinen Beitrages möchte ich mich auf die sog. „Maskulinität“ beschränken. Diese wird, wie ihr Gegenstück die Feminität, von sozialen, historischen und kulturellen Faktoren wesentlich stärker beeinflusst, als von anatomischen oder biologischen Strukturen. Vereinfachend kann man vielleicht auch von männlichem und weiblichem „Lebensgefühl“ sprechen um die geistigen und emotionalen Gender-Eigenschaften gegenüber den sexuellen abzugrenzen. Klar ist, dass das Lebensgefühl, oder im Plural die -gefühle, einer Bevölkerungsgruppe von einer sozialpsychologischen Entwicklung abhängen, die von den Strömungen der jeweiligen Gegenwart, dem sog. Zeitgeist, wesentlich mitbestimmt werden. Diese müssen dann auch immer, insbesondere bei Künstlern, vor dem Hintergrund der Selbstinszenierung verstanden werden.

Im Rahmen meiner Auseinandersetzung mit Richard Wagners (1813 – 1883)  Biografie bin ich auf zwei literarische Dokumente gestoßen, die mich sehr erstaunt und auch belustigt haben: Seine Briefe an die junge Freundin der Familie Wagner, Judtith Gautier (1845 – 1917) (1), und die berühmten, von Daniel Spitzer (1835 – 1893) herausgegebenen, „Briefe an eine Putzmacherin“ (2). Judith lebte in Paris, während die Putzmacherin in Wien zuhause war. Beide Frauen waren Wagners Ansprechpartnerinnen für seine Lust an luxuriösen Parfüms und Stoffen, die sie für ihn auch an ihren jeweiligen Wohnorten besorgen und an seinen Wohnort schicken mussten. Daher wissen wir, dass Wagner Rosenparfüm von Rimmel und rosa Atlasstoffe wie Fetische verehrt hat. Auch in der Kunst mit Nadel und Faden umzugehen kannte sich der Komponist hervorragend aus und gab den beiden Adressatinnen Anweisungen wie seine Schlafröcke, Kissen und Decken anzufertigen, bzw. mit Rüschen zu besetzen seien. Ich neige dazu, dieses Lebensgefühl, in dem Düfte und weiche, fließende Stoffe die Sinne erregen, einer Femininität in Wagners, sonst vor Maskulinitäten strotzender, Persönlichkeit zu sehen. Vielleicht ist es der Ausdruck einer non-binären Lebenswirklichkeit, die im Verborgenen Wagners Einstellung zu den Geschlechtern steuerte. Musikalisch war Wagner ein begnadeter Frauenversteher. Man denke an die Elsa im Lohengrin, die Senta im Holländer, die Isolde im Tristan, die Brünnhilde in der Walküre und schließlich die Kundry im Parsifal. Ich kenne keine andere Musik, in der die Vielfalt der weiblichen Sinnesarten so treffend, intensiv und mitreißend erotisch dargestellt ist, obwohl seine eigenen Beziehungen zu Frauen meist problematisch waren: die gescheiterte Ehe mit Minna Planer (1809 – 1866), die unerfüllte Liebe zu Mathilde Wesendonck (1828 – 1902), und schliesslich die zeitweise asexuelle „Arbeitsbeziehung“ zu Cosima (1837 – 1930), der Tochter von Franz Liszt (1811 1886) und Richards zweiten Frau. In seiner umfassenden Wagner-Analyse mit über 750 Literaturzitaten will Alex Ross (geb. 1968) (3) den Leser von Wagners offensichtlichem Frauenhass überzeugen. Außerdem behauptet er, dass Wagner sein ganzes Leben lang nach dem Ideal der Androgynie strebte und führt als Hinweis an, dass im Parsifal Androgynie zur Religion erhoben wird. „Der Heiland erlöst die Welt, da er die Dualität der Geschlechter überwindet“, schreibt Ross. „Androgyn“ kann man, im vorliegenden Fall, als Synonym für die heutige Bezeichnung „non-binär“ auffassen. Die Nähe zur Galionsfigur der Homosexualität im ausgehenden 19. Jahrhundert, König Ludwig II. von Bayern, tat ein Übriges auch über Wagners heimliche sexuelle Orientierung öffentlich zu spekulieren.

Der Wiener Schriftsteller und schreibende Stadt-Flaneur Daniel Spitzer ist durch dunkle Kanäle an die Briefe von Richard Wagner an Bertha Goldwag (1800 – ?) gekommen, die diese in ihrer Wiener Schneiderei sorgsam aufbewahrt hatte. Im Jahre 1877, Wagner war damals 64 Jahre alt, hat er sie publiziert, was einen regelrechten literarischen „Shitstorm“ bei Wagnerianern und ihren Gegnern auslöste. Spitzer beschreibt sehr plastisch die Hasstiraden, Schmähungen und Beschimpfungen, die er über sich ergehen lassen musste, aber auch positive Reaktionen hat er bekommen. Die Briefe an das „liebe Fräulein Bertha!“ und an die „Teure Seele!“ (Judith Gautier) sind , aus meiner persönlichen Sicht, in ihrer Intimität menschliche Dokumente, die ein eindringlicher Indikator der enormen Sinnlichkeit Richard Wagners sind und  die wir ja auch in seiner Musik so lieben. Die Schwäche für Luxus, den man auf der Haut fühlen kann, erzeugt große Sympathie für einen Mann, den man andererseits meist, wegen seiner macht- und gesellschaftpolitischen Einstellungen ablehnen muss. Dafür, dass ihn die Nationalsozialisten vereinnahmt hatten, konnte der Kosmopolit Wagner natürlich nichts. Er war ein Revolutionär, der 1849 beim Aufstand in Dresden mit auf die Barrikaden ging und nach Niederschlagung der Revolte dann vor polizeilicher Verfolgung ins Schweizer Exil flüchtete. Die enorme Komplexität dieser Künstler-Persönlichkeit versetzt den Musikfreund immer wieder in tiefes Erstaunen!

(1) Schuh, Willi (Hrsg.): Die Briefe Richard Wagners an Judith Gautier. Rotapfel-Verlag, Zürich und Leipzig ca. 1936

(2) Spitzer, Daniel: Briefe Richard Wagners an eine Putzmacherin, Carl Conegen Verlagsbuchhandlung, Wien 1906. (Faksimile)

(3 )Ross, Alex: Die Welt nach Wagner, Rowohlt, Hamburg 2020

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