Sind Lebensabschnittsweine wie Lebensabschnittspartner?

Die Freude über das Produkt eines Rebgartens kann einen Lebensabschnitt andauern.

Einst hatte mich Hermann Hesse voll in seinen Bann gezogen und eine kurze Passage aus seiner Essay-Sammlung „Wanderung“ wurde zu einem frühen Leitsatz meines Lebens: „Ich bin ein Verehrer der Untreue, des Wechsels, der Phantasie. Ich halte nichts davon, meine Liebe an irgendeinen Fleck der Erde festzunageln. Ich halte das, was wir lieben, immer nur für ein Gleichnis. Wo unsere Liebe hängen bleibt und zur Treue und Tugend wird, da wird sie mir verdächtig. Diese Worte riefen mich auf, mein Leben immer wieder zu hinterfragen und nicht in Nibelungentreue irgendwelchen Konventionen nachzulaufen. In einer Gesellschaft, in der beinahe die Hälfte aller Ehen wieder geschieden werden, hat sich auch ein tiefgreifender Wandel des Begriffs „Treue“ vollzogen: die Wertigkeit des „Bundes fürs Leben“ hat abgenommen und wurde ersetzt durch eine neue Definition des Zusammenlebens: der Ehepartner ist zum „Lebensabschnittspartner“ geworden. In dieser Wortschöpfung für eine Beziehung steckt schon ihre zeitliche  Begrenzung.

Es gibt natürlich Gründe für diese soziologische Entwicklung: die zunehmende gesellschaftliche Gleichberechtigung der Eheleute erfordert von beiden einen stärkeren Ich-Bezug, der sich als Wunsch nach Selbstbestimmung äussert, und damit auch ständig fordert sich gegenüber dem Partner durchzusetzen. Dies gehört im Berufsleben – und häufig sind ja beide Partner berufstätig – ebenfalls zur Lebenswirklichkeit! So lange die Konzepte und Vorstellungen der Partner miteinander vereinbar sind bleibt die Beziehung bestehen, wenn dies aber nicht mehr der Fall ist sieht man sich ggf. nach einem neuen Partner um und beginnt einen „neuen Lebensabschnitt“. Bekanntlich läuft dies in der Realität meistens nicht ganz so komplikationslos ab, wie es so dahergesagt klingt. Deutlich lustvoller kann aber ein neuer Lebensabschnitt  in der Beziehung zum Wein sein. Häufig „verliebt“ sich ja ein Genießer regelrecht in einen bestimmten Wein und diese Liebe hält ihn zunächst gefangen und er glaubt sie müsse unendlich andauern. Dass sie enden könnte, daran denkt er zu diesem Zeitpunkt nicht, obwohl er es natürlich aus Erfahrung wissen müsste. Die Analogie zur Beziehung zweier Menschen ist, oberflächlich gesehen, einigermaßen frappierend! Können wir in Analogie zur neuen Definition einer Partnerschaft tatsächlich auch von „Lebensabschnittsweinen“ sprechen?

Ich glaube ja! Außer den altersbedingten, biologischen Lebensphasen durchlebt jeder Mensch für sich selbst seine individuellen „Lebensabschnitte“, die durch sein Umfeld geprägt werden. Dazu gehören auch die jeweiligen Erkenntnisse über den Genuss von Weinen. Zumindest was ihre Preisstruktur betrifft, kann man bestimmte Weine mit bestimmten Lebensabschnitten korrelieren: in der Jugend waren es meist die preisgünstigeren Chiantis, Valpolicellas und Retsinas, heute sind es Yellow-Tail & Co. sowie Billigweine vom Discounter, mit denen sich die Jugend die Abende und Nächte verschönt. In der Zeit des aktiven Berufslebens kann es dann  einerseits das Prestigedenken des/der jungen Managers/Managerin sein, was bestimmte Wein-Marken oder -Herkünfte bevorzugt. Schließlich wird die erwachende Freude am sinnlichen Genuss die Weinauswahl bestimmen und zu tiefen Freundschaften mit den geliebten Tropfen führen. Im späteren Alter wird das Verhältnis vom Genießer zu seinem Objekt der Begierde deutlich vielschichtiger, denn es fußt auf langer Erfahrung und ausgeprägten Vorlieben (die sich gelegentlich leider bis zum Altersstarrsinn steigern können: ich habe z. B.  weißhaarige Bekannte, die nur noch Süßweine aus bestimmten Regionen trinken und nichts anderes mehr am Gaumen haben wollen oder können).

Es ist vielleicht eine der ältesten Erkenntnisse der Menschheit, dass „Abwechslung Freude bereitet“. Vermutlich hat uns der Römer Cicero den Spruch „variatio delectat“ hinterlassen. Genuss und sinnliche Freude sind nicht unbegrenzt wiederholbar mit dem immer identischen Reiz abrufbar. Nach vielfacher und immer gleicher Stimulation tritt mit der Zeit eine Art „Refraktärphase“ ein, an deren Ende die Stimulation überhaupt nicht mehr gelingt. Ein Beispiel mag dies illustrieren: in einem Gefängnis an der Küste des amerikanischen Bundesstaats Maine gab es, wegen der schier unbegrenzten Verfügbarkeit draußen im Meer, täglich Hummer zu essen, was schließlich zu einem gewaltsamen Aufstand der Insassen und nachfolgend zur Änderung des Speiseplans führte. Selbstverständlich ist der Wein von diesen Zusammenhängen nicht ausgeschlossen und schon deshalb müssen sich Vorlieben ändern, das bedeutet, dass jeder „Lebensabschnittswein“ im Laufe der Zeit an Reiz verliert.

Als  „Verehrer der Untreue, des Wechsels, der Phantasie halte ich nichts davon, meine Liebe an irgendeinen Wein  festzunageln“ , so hätte Hermann Hesse, dem Wein ja auch wahrhaftig nicht gleichgültig war, vermutlich seine Einstellung zu dem hier behandelten Thema kundgetan. Fortschritt ist, wie das Wort es bereits nahe legt, nur durch „vorwärts schreiten“ möglich und das bedeutet immer dem zurückgelassenen „Alten und Bekannten“ untreu zu werden. Auf die Liebe zum Wein bezogen folgt daraus, dass es zwar „Lebensabschnittsweine“ geben kann, man ihnen aber  auf keinen Fall die große Vielfalt der Weinkultur opfern sollte. Die erwähnte Analogie zur „Lebensabschnittspartnerschaft“ kann hier selbstverständlich nicht eingefordert werden!

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