Zwischen Mensch, Vogel und Wein besteht eine innige Dreiecksbeziehung. Dieses Liebesverhältnis zwischen dem Menschen, einem Tier und einer Pflanze ist wohl einzigartig in der Natur. Der Mensch liebt die Vögel wegen ihrer Schönheit und manche auch wegen ihres Geschmackes, genau wie den Weinstock, den er insbesondere wegen der Wirkung und des Aromas seiner vergorenen Früchte schätzt. Der Mensch hat also ein ästhetisches und ein erotisches Verhältnis zum Vogel und ein sensorisches zum Weinstock. Dem Vogel geht es da ganz ähnlich: er liebt ebenfalls den Wein. So sehr, dass Schwärme von ihm im Herbst die Trauben ganzer Weinberge gierig in ihren Schnäbeln verschwinden und die Weinbauern ohne Ernte dastehen lassen. Der Weinstock wiederum liebt beide, den Menschen und die Vögel, ganz utilitaristisch, nämlich einerseits wegen der Fürsorge des Menschen um seine Ernährungs- und Wachstumsbedingungen und, da es ihm egal ist wer seine Trauben bekommt, liebt er auch die gierigen Vögel wegen ihrer sommerlichen Lust neben den Trauben auch die für den Wein schädlichen Insekten zu fressen.
Es sieht so aus als bestünde wegen der Weinlese zwischen Mensch und Vogel eine gewisse Wettbewerbssituation. Den kampfbereiten Winzern fällt nichts Besseres ein, als gruselige Vogelscheuchen oder klappernde Windräder den Rebgärten aufzustellen oder dieselben mit scheußlichen Kunststoff-Netzen zu überspannen. Obwohl Philosophen, Poeten, Musiker oder Maler dem Vogel in Abhandlungen, Gedichten, Musikstücken und Gemälden vielfach gehuldigt haben, wie übrigens dem Wein auch, sind die kriegerischen Aspekte in der Beziehung zwischen Mensch und Vogel kaum berücksichtigt worden; außer vielleicht von Alfred Hitchcock in seinem beängstigenden Film „Die Vögel“. Die Künstler haben sich beinahe ausschließlich mit der Faszination des Fliegens, der Farben der Federn, der Körperformen und der Melodien dieser kleinen, letztlich doch sehr liebenswerten, Kreaturen beschäftigt. Aus diesen Vogel- (und Wein-)Huldigungen sind schließlich gelegentlich Dokumente des menschlichen Geistes oder große Kunstwerke entstanden.
Die Vögel haben Eingang in die Mythologie gefunden und so sind aus ihnen Fabelwesen mit neuen Merkmalen und Eigenschaften entstanden. Donner- und Feuervögel, Basilisken, Greife und der Phönix sind Beispiele für die Vogelfantasien des Menschen. In allen Vorstellungen spielen die Unabhängigkeit und der Freiheitsdrang der Vögel eine zentrale Rolle. Fliegen gehörte zu den großen Utopien der Menschheit und war aber Jahrtausende lang eigentlich nur dem Geiste möglich. Der Vogelkäfig ist folglich das universelle Symbol der Unfreiheit. Bestimmte Vögel repräsentieren menschennahe Eigenschaften, so stellt der schwarze Rabe nicht nur Dunkelheit sondern auch Pech und Unglück dar und die Eule ist das Symbol der Weisheit. Die wohl aus der griechischen Mythologie abgeleitete erotische Bedeutung bestimmter Tätigkeiten der Vögel zeigt ihre Beziehung zu Eros, dem Gott der Liebe. Auch der Aberglaube fokussiert sich gelegentlich auf die Vögel, flog z.B. einer rechts an einem vorbei, bedeutete dies für die Person, dass heute ein Glückstag war.
Auch im Wein leben viele Mythen: im Gilgamesch-Epos (entstanden ca. 1800 bis 1600 vor Chr.), das auf Tontafeln in babylonischer Keilschrift aufgeschrieben wurde, wird die Geschichte des wilden Mannes Engidu, der u. a. durch Wein zivilisiert wurde, erzählt:
„Da aß Engidu Brot, bis er satt war,
Da trank er Wein, sieben Becher
Sein Geist löste sich, er wurde fröhlich
Sein Herz jubelte, und sein Antlitz strahlte…“
So heißt es in der Übersetzung von Hermann Ranke und dieser Text dürfte tatsächlich am Anfang des ewigen Weinmythos stehen. Ganz wesentlich wurde dieser dann später von der Kirche noch verstärkt. Die symbolische Bedeutung des Weins in der Eucharistie-Feier war nicht die Ursache, aber ein wesentlicher Aspekt des Wein- und Blutmythos, der bis heute lebt (Rotwein zu Fleisch!). Auch in der jüdischen Liturgie spielt seit alters der Wein eine Rolle. Im Islam bedienten sich vorwiegend die Sufis des Weines, nach dessen Konsum sie in religöse Räusche fielen. Im Alltag war der Wein auch ein Schwerpunkt im Volksglauben, auf vielfache Weise verknüpft mit dem Tod. Vom Mythos Wein lebt auch der Weinjournalismus ganz gut!
Ich erinnere mich an einen Ausflug ins Havelland. An einer Stelle am Ufer des Flusses habe ich unter Weiden Rast gemacht. In einiger Entfernung stand ein knorriger, alter und kahler Baum in dem die majestätischen Silhouetten von zwei Seeadlern auf einem Ast zu sehen waren. Außer dem leisen Plätschern des Wassers war Stille, da hob eine Nachtigall im ein paar Meter von mir entfernten Gebüsch an zu singen. Dieser Augenblick wurde unvermutet zu einem jener zeitlosen Momente, in denen die perfekte Schönheit der Natur alle Sinne erfüllte und ich die Magie des Lebens spürte. Ganz ähnliche Empfindungen können auch bei einer Flasche Wein entstehen, nämlich dann, wenn der Duft im Glas von dem Weinberg und der ihn umgebenden Landschaft, sowie ihren Menschen zu erzählen beginnt. Am Gaumen entsteht dann, wie unter den Weiden an der Havel, eine grenzenlose Harmonie der Sinne, die die Zeit aufzulösen scheint. In beiden Situationen hat sich der Mythos in eine leidenschaftlich erlebbare Wirklichkeit verwandelt und gleicht dem Glücksgefühl des Engidu in dem obigen Gilgamesch-Vers. Wenn die beiden geschilderten Situationen gleichzeitig geschehen würden, was leicht vorstellbar ist, könnten wir tatsächlich von einer lebendigen Dreiecksbeziehung zwischen Mensch, Vogel und Wein reden!