Den engen Zusammenhang von gastonomischem Genuss mit Sexualität und Erotik hat bereits der Volksmund hergestellt. Die Liebe gehe angeblich durch den Magen heißt es ja sinngemäß in fast allen Kultursprachen. Die Thematik ist also nicht neu. Wir sprechen von der Verquickung zweier Triebe, die beide das menschliche Dasein auf eine sehr intensive und sinnliche Art bestimmen. Vor bald einem halben Jahrhundert hatten die heute als „68iger“ apostrophierten jungen Mitbürger begonnen ihre Sexualität von den Tabus und sozialen Beschränkungen einer moralisch verschlossenen Gesellschaft zu befreien. Heute reden sie gerne von der „sexuellen Revolution“. Ihre neu gewonnene Freiheit haben sie allerdings auf Kosten des gastronomischen Genusses erworben. In dem Maße, in dem die Freizügigkeit in Sachen der Sexualität wuchs stülpte sich ein restriktives Denken und Fühlen über das Sinnesorgan des Geschmacks. Neue Tabus wie das Körpergewicht, der Cholestrinspiegel und die körperliche Fitness ersetzten die alten Beschränkungen der lustvollen Liebe. Nicht mehr der Konflikt um den Sexualtrieb erzeugt heutzutage schlechtes Gewissen sondern der Kampf gegen den triebhaften Hunger. Die modernen Aphrodisiaka heißen folgerichtig jetzt Appetitzügler.
Auch im Bereich der Krankheiten hat die Esskultur die Sexualkultur abgelöst. Die Neurosen von einst, denenSigmund Freud den Kampf angesagt hatte, sind zu Diät-Obsessionen mutiert und sie reichen von der Laktoseintolernz zur Petersilienallergie oder Ähnlichem. Dabei ist nicht jedes Übergewicht gleich ein pathologischer Zustand, es gibt durchaus noch eine Normvorstellung in der eine gewisse Körperfülle und auch ein moderates Genießertum gesellschaftlich akzeptiert ist. Aber die Grenzen sind sehr eng und ich vermute, dass es mehr Leute gibt, die unter einem enormen Leidensdruck wegen ihres Körpergewichtes stehen, als solche, die mit sich und ihrer Genussfähigkeit völlig im Reinen sind. Die Stigmastisierung des sog. Übergewichtes, was ja dank des „body mass index“ (BMI) zu einer untrüglichen wissenschaftlichen Maßeinheit geworden ist, verfrachtet viele Genießer ins soziale Abseits. Ist tatsächlich jede ausgelebte Freude am guten Essen ein Zeichen von Kontrollverlust und persönlicher Schwäche? Kompensiert wird dies gelegentlich noch durch den Mythos vom „gesunden Essen“. Natürliche und reine, sog. unverfälschte Nahrungsmittel mit „Bio-Zertifikat“ entlasten das Gewissen und stellen vermeintliches Wohlbefinden her weil sie angblich die gastronomische Tradition jenseits moderner Produktionsmethoden aufrecht halten und damit eine willkommene Alternative zum sonstigen „junk food“ bilden.
Ist es jetzt, analog der sexuellen Revolution von 1968, Zeit für die fällige Gastro-Revolution? Sich auflehnen gegen das Diktat des „kultivierten Hungers“? Wieder Butter oder Gänseschmalz aufs Brot streichen, Kartoffelknödel in die sämige Soße tunken und das Essen mit einer üppigen Mehlspeise beenden? Würde das nicht wieder Spaß machen? Eine viel beachtete Studie aus Dänemark hat im vergangenen Jahr tatsächlich gezeigt, dass nicht Normalgewichtige am längsten leben, sondern jene, die über ein mittleres Übergewicht verfügen. Mollige haben eindeutig einen Überlebensvorteil, heißt die frohe Botschaft für alle Diätverweigerer! (Afzal S.. Tybjaerg-Hansen A., Jensen G.B. et al. B. G. Nordestgaard: Change in Body Mass Index Associated With Lowest Mortality in Denmark, 1976-2013, JAMA. 4666,2016.). Ist jetzt die Zeit gekommen beim Essen schlechtes Gewissen gegen etwas mehr Freude einzutauschen?