
Photographie der Marie d´Agoult von Antoine-Samuel Adam-Salomon – gemeinfrei
Einer der Höhepunkte der Klaviermusik von Franz Liszt (1811 – 1886) sind seine drei Bände mit dem Titel „Années de pèlerinage“. Der erste Band ist der Reise in die Schweiz in den Jahren 1835/36 gewidmet, die er mit seiner damaligen Liebeseroberung, der 28-jährigen Gräfin Marie d’Agoult unternimmt (dieser Verbindung entstammt übrigens Cosima, die spätere Frau von Richard Wagner). Fünf Jahre später werden die neun poetischen Ton-Miniaturen veröffentlicht. Sie schildern, manchmal auch durchaus onomatopoetisch, verschiedene Orte oder Stimmungen der Schweizer Landschaft, die die beiden besucht hatten. In Bex, einem Städtchen im unteren Rhônetal, hatten die zwei Verliebten eine längere Reisepause eingelegt, während der sie gemeinsam den Briefroman „Oberman“ des französischen Schriftstellers Étienne Pivert de Senancour (1770 – 1846) gelesen haben. Darin berichtete der junge Oberman seinem Freund in 91 Briefen vom eigenen Liebesleiden, der Sehnsucht und der Resignation, wobei die Grundstimmung entfernt an Goethes „Werther“ (erschienen 1774) erinnert.
Zu den Zeiten als Franz Liszt mit der Gräfin verreist waren, war der „Oberman“ ein frühromantischer Bestseller in den Pariser Salons, in dem die Pracht der Bergwelt um die «Dents du Midi» mit ihren Felsen und dem ruhigen Strom der Rhone als ein Naturschauspiel sondergleichen beschrieben wurde. In der Vorbemerkung der deutschen Übersetzung des Buches heißt es: „Man wird darin Beschreibungen finden; solche nämlich, die zu einem besseren Verständnis der Natur beitragen und einigen Aufschluss geben über die vielleicht allzu sehr vernachlässigten Beziehungen zwischen dem Menschen und dem, was er die Welt des Unbelebten nennt“. Entsprechend dem Zeitgeist ist das ganze Buch von einer wehmütig-zarten Melancholie geprägt, die wohl die beiden Touristen aus Paris auch mitgerissen hat. Liszt hat das bewunderte Rhône-Tal und seine Gefilde einfach in ein imaginäres „Vallée d´Obermann“ verwandelt und ein hinreißendes Stück Musik dazu komponiert, welches er dem Klavierzyklus „Suisse“ als sechste Reiseetappe hinzufügte. Aus dem französischen Oberman mit einem „n“ wurde der deutsche Obermann mit zwei „n“. Obwohl es geographisch kein Obermann -Tal gibt, ist die Musik trotzdem ein musikalisches Landschaftsgemälde. Der deutsche Musikwissenschaftler Anselm Gerhard (geb. 1958) hat sich intensiv mit der Geografie und seiner Relevanz für die Musik des „Vallée d´Obermann“ beschäftigt und darüber einen sehr lesenswerten Artikel in der NZZ verfasst.
Das Stück beginnt mit einer überaus elegisch vorgetragenen Melodie, in der Weltschmerzes spürbar wird. Trotzdem, die melodische, harmonische und rhythmische Vielfalt der Musik des 12-Minuten-Stückes mit seinen beiden kontrastierenden Themen ist kaum zu überbieten und führt immer wieder zu lichten, freudigen Momenten, in denen sich die Schönheit der Natur offenbart und die Melancholie der Glückseligkeit weicht. Wie abwechselnd Sonne und Wolken das Licht im Tal verändern, schwankt die Musik zwischen der meditativen Zartheit grüner Fluren und den pochenden Akkorden der beklemmenden Berg-Schroffheit, dazu kommt es gelegentlich zu heftigen Gefühlsausbrüchen. Das „Vallée d’Obermann“ setzt erhebliches pianistisches Können voraus, um mit den enormen Klangkaskaden fertig zu werden. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Stück um eine Huldigung an Pivert de Senancour und um die gefühlvolle Würdigung der stürmische Liebe zur Gräfin.
Wer war die Frau mit der Franz Liszt all die persönlichen, musikalischen Erlebnisse seiner Reise in die Schweiz teilte? Für die in Frankfurt am Main geborene Marie waren ihre Mutter, Maria Elisabeth Bethmann (1772 -1847) aus der gleichnamigen Frankfurter Bankiersfamilie und ihr Vater, ein verarmter, französischer Adliger namens de Flavigny auch deswegen so wichtig, weil sie den Grundstein für ihre Zuneigung für beide Länder legten. Sie fühlte sich ihr ganzes Leben lang zwischen dem französischen und deutschen Kulturkreis hin- und hergerissen. Sie muss auffallend schön, musikalisch und gebildet gewesen sein, was sie in der Gesellschaft angesehen und begehrenswert erscheinen ließ. Zwar hatte sie, neben ihrem ersten Ehemann, dem Grafen Charles d’Agoult zahlreiche Affairen, aber ihre große Liebe war und blieb Friedrich Liszt, mit dem sie ihre Freude an Musik und Literatur in einer Art Seelenverwandtschaft teilen konnte. Nach ihrer skandalbedingten Flucht aus Paris und ihrer Schweizreise ließen die beiden sich in Genf nieder. Dort brachte Marie ihre erste Tochter Blandine, die tragisch früh gestorben ist, zur Welt und gründete einen Salon in der Rue Tabazan, in dem Aristokraten, Intellektuelle, Politiker, Künstler und Emigranten ein und aus gingen. Nach Jahren des Konkubinats begann die Liebe zwischen Franz und Marie abzukühlen und es folgte ein langer Rosenkrieg. Marie d´Agoult war eine starke Frau, die mit den Großen ihrer Zeit auf Augenhöhe kommunizierte und trotzdem unter der Trennung von Franz Liszt sehr litt. Sie setzte sich für die Emanzipation der Frau ein und betätigte sich erfolgreich als Schriftstellerin, häufig unter dem Pseudonym Daniel Stern. Liszt schien von Marie gelegentlich emotional und geistig überfordert gewesen zu sein und er wandte sich nach der Trennung wieder seinem alten Lebensstil eines rastlosen Don Juans zu. Das kleine Meisterwerk „Vallé d´Oberman“ ist eine wunderbare Erinnerung an die glücklicheren Zeiten der einst so innigen Verbindung von Franz und Marie.
Bleiben Sie stets neugierig …und genussvoll durstig!