
Modell der „Sagrada Familia“ (Foto: P. H.)
Bei meinen vielfachen Besuchen Barcelonas haben mich ortsansässige Freunde immer wieder zum Casa Batlló am Prachtboulevard namens „Passeig de Gràcia“ oder zum „Park Güell“ geführt um dort jeweils in die architektonische und landschaftsgestalterische Welt des Antoni Gaudí einzutauchen. Dieser katalanische Architekt war am Beginn das 20. Jahrhunderts einer der bedeutendsten Vertreter des „modernisme“, einer katalanischen Variante des Jugendstils. Bei der ersten Begegnung mit seiner Kunst war ich von Gaudí ganz begeistert: die skurrilen und bunten Formen seiner Werke hatten etwas erfrischend Unkonventionelles und stimmten mich auf eine besondere Weise fröhlich. Bei weiteren Besuchen empfand ich diese Ästhetik immer weniger attraktiv, sie schien mir extravagant, funktionslos und manieriert sowie gelegentlich dem Kitsch recht nahe. Ich vergaß Gaudí in Barcelona bis zu dem Tag, an dem ich erstmals durch das Eingangstor ins Innere der Kirche namens „Sagrada Familia“ (Heilige Familie) trat. Wie ich diesen, immer noch unvollendeten, Kirchenbau erlebte, übertraf meine Erwartungen dermaßen, dass ich meine Meinung über den Schöpfer dieses Gebäudes, Antoni Gaudí, von Grund auf revidieren musste. Es war ein magisches Erlebnis von allergrößter Intensität!

Detail des Portals der Sagrada Familia (Foto: P.H.)
Schon im Studium an der Fachhochschule für Architektur in Barcelona fiel Gaudí durch seine unkonventionellen Ideen auf. „Verrückt oder ein Genie“ lautete damals die Beurteilung seiner Lehrer. Als 1882 die Entscheidung für den Bau einer spendenfinanzierten Kirche fiel, wurde zunächst ein anderer Architekt mit deren Planung und Ausführung betraut, der sich aber nicht mit der Bauleitung einigen konnte und zurücktrat. Das war die Stunde des damals 31-jährigen Gaudí, der bereits durch mehrere, in Nordspanien verstreute Projekte aufgefallen war. Ihm wurde das Bauvorhaben übertragen, er verwarf die alten Pläne und begann von ganz Neuem. Er entwickelte eine außerordentliche Konstruktion, die sowohl von ihrer Struktur als auch von ihrem symbolischen Gehalt her, die sakrale Architektur für immer verändern sollte. Technische Schwierigkeiten bei der Realisierung des Baus, Probleme der Finanzierung und schließlich der Tod Gaudís 1926 und der spätere Spanische Bürgerkrieg (1936-1939) verzögerten die Fortführung des gesamten Vorhabens. Zudem wurden die Modelle und Teile der Baupläne des Projektes im Krieg mutwillig zerstört und konnten erst danach wieder restauriert werden. 1950 wurden die Bautätigkeiten schließlich wieder aufgenommen, mit dem Ziel sie bis zum 100sten Todestag Gaudís (2026) abzuschließen. Diese Pläne können nun aber leider nicht mehr eingehalten werden und neuer Fertigstellungstermin ist jetzt 2030. Der Innenraum der Kirche ist allerdings vollständig erstellt und wurde im November 2010 von Papst Benedikt XVI. geweiht. Am Außenteil fehlt noch die Errichtung von 10 Türmen.

Blick ins Gewölbe des Mittelschiffes (Foto: P.H.)
Bereits das Design des Gebäudes in der Form eines klassischen Langkreuzes, als Symbol des christlichen Glaubens, ist Programm. Durch die Aufteilung des Raumes in fünf Schiffe vermittelt er den Eindruck immenser Größe und Weite. Die Gewölbe und die sie tragenden Säulen der Sagrada Familia suggerieren etwas Lebendiges und bei längerem Betrachten erweitert sich die Architektur zu einem majestätischen Naturphänomen, ja, man hat den Eindruck sich in einem lichten Wald aus Palmen zu befinden. Die geneigten Säulen verzweigen sich nach oben wo sie eine Art von Geflecht aus Palmwedeln bilden. Bei genauem Hinsehen sieht man, dass die Säulen aus ganz unterschiedlichen Materialien bestehen: Ich erkenne Granit, Porphyr und auch den klassischen Basalt. Die einzigartige Formensprache Gaudís in diesem Kirchenschiff wird ergänzt durch die grandiose Lichtführung im gesamten Bau. Das Spiel der Farben der bunten Glasfenster im steinernen Palmenhain scheint so surreal, dass man glauben könnte, hier seien spirituelle Kräfte am Werk. Ich konnte mich dieser Atmosphäre, der zweifelsohne etwas Transzendentales innewohnte, nicht entziehen und habe mich auf einer Kirchenbank niedergelassen, um mich in einen beinahe meditativen Zustand zu versetzen. Welch großartiges und fotografisch nicht zu dokumentierendes Erlebnis!
Im Museum der Sagrada Familia habe ich dann auch Näheres über die Person Gaudís und die Beziehung zu seinem Werk erfahren. Von der technischen Seite ist wohl sein sog. „hängendes Kettenmodell“ das Interessanteste. Er hängte Ketten auf, die an einem Ende den Boden berührten und durch ihr eigenes Gewicht eine natürliche Kurve bildeten, diese „Kettenlinie“ demonstrierte ihm wie man Lasten gleichmäßig verteilen konnte und schließlich übertrug er diese Erkenntnis auf die Säulen und Gewölbe der Kirche. Durch dieses innovative Verfahren entstanden nicht nur sehr stabile, sondern auch die schönen Bauformen, die ich kurz vorher bewundert hatte.
Gaudí war ein gläubiger Katholik, ein großer Verehrer der Natur und ein feuriger Liebhaber seiner Heimat Katalonien. Die Neigung zu experimentieren, die technische Begabung, die originellen Arbeitsmethoden, die künstlerische Dimension des Werkes, die Unabhängigkeit von Stilen und die Fähigkeit Tradition mit Innovation zu verbinden, sind weitere im Detail betrachtenswerte Eigenschaften Gaudís. Er dürfte der einzige Architekt der Neuzeit sein, von dem einige Werke zum UNESCO-Weltkulturerbe erhoben wurden. Man wüsste gerne, wie er sein großes Lebenswerk, die fast fertige Sagrada Família, heute selbst beurteilen würde.
Bleiben Sie stets neugierig …und genussvoll durstig!